Platon: Politeia

Das Sonnengleichnis
Das Liniengleichnis
Das Höhlengleichnis

Das Sonnengleichnis (507b-509d)

S507b

Vieles Schöne, sprach ich [Sokrates], und vieles Gute, was einzeln so sei, nehmen wir doch an, und bestimmen es uns durch Erklärung.

Das nehmen wir an [sagte Glaukon].

Dann aber auch wieder das Schöne selbst und das Gute selbst und so auch alles, was wir vorher als vieles setzten, setzen wir als eine Idee eines jeden und nennen es jegliches, was es ist.

So ist es.

Und von jenem vielen sagen wir, daß es gesehen werde, aber nicht gedacht; von den Ideen hingegen, daß sie gedacht werden, aber nicht gesehen.

Auf alle Weise freilich.

S507c     Womit nun an uns sehen wir das Gesehene?

Mit dem Gesicht, sagte er.

Nicht auch ebenso, sprach ich, mit dem Gehör das Gehörte, und so mit den übrigen Sinnen alles Wahrnehmbare?

Freilich.

Hast du auch wohl den Bildner der Sinne beachtet, wie er das Vermögen des Sehens und Gesehenwerdens bei weitem am köstlichsten gebildet hat?

Nicht eben, sagte er.

Also betrachte es so. Bedürfen wohl das Gehör und die Stimme noch ein anderes Wesen, damit jenes höre und diese gehört werde, so daß,

S507d  wenn diese dritte nicht da ist, jenes nicht hören kann und diese nicht gehört werden?

Keines, sagte er.

Und ich glaube, sprach ich, daß auch die meisten andern, um nicht zu sagen alle, dergleichen nichts bedürfen. Oder weißt du einen anzuführen?

Ich keinen, sagte er.

Aber das Gesicht und das Sichtbare, merkst du nicht, daß die eines solchen bedürfen?

Wieso?

Wenn auch in den Augen Gesicht ist, und wer sie hat, versucht es zu gebrauchen, und wenn auch Farbe für sie //V253// da ist, so weißt du wohl, wenn nicht

S507e   ein drittes Wesen hinzukommt, welches eigens hierzu da ist seiner Natur nach, daß dann das Gesicht doch nichts sehen wird, und die Farben werden unsichtbar bleiben.

Welches ist denn dieses, was du meinst? fragte er.

Was du, sprach ich, das Licht nennst.

Du hast recht, sagte er.

Also sind durch eine nicht geringe Sache der Sinn des Gesichts und das Vermögen des Gesehenwerdens

S508a   mit einem köstlicheren Bande als die andern solchen Verknüpfungen aneinander gebunden, wenn doch das Licht nichts Unedles ist.

Weit gefehlt wohl, daß es das sein sollte.

Und von welchem unter den Göttern des Himmels, sagst du wohl, daß, dieses abhänge, dessen Licht mache, daß unser Gesicht auf das schönste sieht und daß das Sichtbare gesehen wird.

Denselbigen, sagte er, den auch du und jedermann; denn offenbar fragst du doch nach der Sonne.

Verhält sich nun das Gesicht so zu diesem Gott?

Wie?

Das Gesicht ist nicht die Sonne, weder es selbst noch auch das, worin es sich befindet und was

S508b  wir Auge nennen.

Freilich nicht.

Aber das sonnenähnlichste, denke ich, ist es doch unter allen Werkzeugen der Wahrnehmung.

Bei weitem.

Und auch das Vermögen, welches es hat, besitzt es doch als einen von jenem Gott ihm mitgeteilten Ausfluß.

Allerdings.

So auch die Sonne ist nicht das Gesicht, aber als die Ursache davon wird sie von ebendemselben gesehen.

So ist es, sprach er.

Und ebendiese nun, sprach ich, sage nur, daß ich verstehe unter jenem Sprößling des Guten, welchen das Gute nach der Ähnlichkeit mit sich gezeugt hat, so daß, wie jenes selbst

S508c   in dem Gebiet des Denkbaren zu dem Denken und dem Gedachten sich verhält, so diese in dem des Sichtbaren zu dem Gesicht und dem Gesehenen.

Wie? sagte er, zeige mir das noch genauer.

Die Augen, sprach ich, weißt du wohl, wenn sie einer nicht auf solche Dinge richtet, auf deren Oberfläche das Tageslicht fällt, sondern auf die nächtlichen Schimmer, so sind sie blöde und scheinen beinahe blind, als ob keine reine Sehkraft in ihnen wäre?

Ganz recht, sagte er.

S508d     Wenn aber, denke ich, auf das, was die Sonne bescheint, dann sehen sie deutlich, und es zeigt sich, daß in ebendiesen Augen die Sehkraft wohnt.

Freilich.

Ebenso nun betrachte //V254// dasselbe auch an der Seele. Wenn sie sich auf das heftet, woran Wahrheit und das Seiende glänzt, so bemerkt und erkennt sie es, und es zeigt sich, daß sie Vernunft hat. Wenn aber auf das mit Finsternis Gemischte, das Entstehende und Vergehende, so meint sie nur und ihr Gesicht verdunkelt sich so, daß sie ihre Vorstellungen bald so, bald so herumwirft, und wiederum aussieht, als ob sie keine Vernunft hätte.

Das tut sie freilich.

S508e     Dieses also, was dem Erkennbaren Wahrheit mitteilt und dem Erkennenden das Vermögen hergibt, sage, sei die Idee des Guten; aber wie sie der Erkenntnis und der Wahrheit, als welche erkannt wird, Ursache zwar ist, so wirst du doch, so schön auch diese beide sind, Erkenntnis und Wahrheit, doch nur, wenn du dir jenes als ein anderes und noch Schöneres als beide denkst, richtig denken. Erkenntnis

S509a   aber und Wahrheit, so wie dort Licht und Gesicht für sonnenartig zu halten, zwar recht war, für die Sonne selbst aber nicht recht, so ist auch hier diese beiden für gutartig zu halten zwar recht, für das Gute selbst aber, gleichviel welches von beiden anzusehen, nicht recht, sondern noch höher ist die Beschaffenheit des Guten zu schätzen.

Eine überschwengliche Schönheit, sagte er, verkündigst du, wenn es Erkenntnis und Wahrheit hervorbringt, selbst aber noch über diesen steht an Schönheit. Für Lust also hältst du es doch gewiß nicht.

Frevle nicht! sprach ich, sondern betrachte sein Ebenbild noch weiter so.

S509b     Wie?

Die Sonne, denke ich, wirst du sagen, verleihe dem Sichtbaren nicht nur das Vermögen, gesehen zu werden, sondern auch das Werden und Wachstum und Nahrung, unerachtet sie selbst nicht das Werden ist.

Wie sollte sie das sein!

Ebenso nun sage auch, daß dem Erkennbaren nicht nur das Erkanntwerden von dem Guten komme, sondern auch das Sein und Wesen habe es von ihm, da doch das Gute selbst nicht das Sein ist, sondern noch über das Sein an Würde und Kraft hinausragt.

S509c     Da sagte Glaukon sehr komisch: Apoll, das ist ein wundervolles Übertreffen!

Du bist eben, sprach ich, selbst schuld daran, indem du mich gezwungen hast zu sagen, was mir davon dünkt.

Und daß du nur ja nicht aufhörst, sagte er, wenigstens nicht, bis du die Ähnlichkeit mit der Sonne noch weiter durchgenommen //V255// hast, wenn noch etwas zurück ist.

Gewiß, sagte ich, ist noch mancherlei zurück.

So lasse nur ja, sagte er, auch nicht das kleinste aus.

Ich werde wohl, denke ich, gar vieles auslassen müssen; indes, soviel für jetzt möglich ist, davon will ich mit Willen nichts übergehen.

Ja nicht, sagte er.

S509d     Merke also, sprach ich, wie wir sagen, daß dieses zwei sind und daß sie herrschen, das eine über das denkbare Geschlecht und Gebiet, das andere über das sichtbare, damit du nicht, wenn ich sage über den Himmel, meinst, ich wolle in Worten spielen. Also diese beiden Arten hast du nun, das Denkbare und Sichtbare.

Die habe ich.

Das Liniengleichnis (509d-511e)

 

So nimm nun wie von einer in zwei geteilten Linie die ungleichen Teile und teile wiederum jeden Teil nach demselben Verhältnis das Geschlecht des Sichtbaren und das des Denkbaren: so gibt dir vermöge des Verhältnisses von Deutlichkeit und Unbestimmtheit in dem Sichtbaren

S509e   der eine Abschnitt Bilder. Ich nenne aber Bilder zuerst

S510a   die Schatten, dann die Erscheinungen im Wasser und die sich auf allen dichten, glatten und glänzenden Flächen finden und alle dergleichen, wenn du es verstehst.

Ich verstehe es.

Und als den andern Abschnitt setze das, dem diese gleichen, nämlich die Tiere bei uns und das gesamte Gewächsreich und alle Arten des künstlich Gearbeiteten.

Das setze ich, sagte er.

Wirst du auch die Sache selbst behaupten wollen, sprach ich, daß in bezug auf Wahrheit und nicht, wie sich das Vorstellbare von dem Erkennbaren unterscheidet, so auch das Nachgebildete von dem, welchem es nachgebildet ist?

S510b     Das möchte ich gar sehr, sagte er.

So betrachte nun auch die Teilung des Denkbaren, wie dies zu teilen ist.

Wonach also?

Sofern den einen Teil die Seele genötigt ist, indem sie das damals Abgeschnittene als Bilder gebraucht, zu suchen, von Voraussetzungen aus nicht zum Anfange zurückschreitend, sondern nach dem Ende hin, den andern hingegen auch von Voraussetzungen ausgehend, aber zu dem keiner Voraussetzung weiter bedürfenden Anfang hin, und indem sie ohne die bei jenem angewendeten Bilder mit den Begriffen selbst verfährt.

Dieses, sagte er, was du da erklärst, habe ich nicht gehörig verstanden.

S510c     Hernach aber, sprach ich; denn wenn folgendes noch //V256// vorangeschickt ist, wirst du es leichter verstehen. Denn ich denke, du weißt, daß die, welche sich mit der Meßkunst und den Rechnungen und dergleichen abgeben, das Gerade und Ungerade und die Gestalten und die drei Arten der Winkel und was dem sonst verwandt ist, in jeder Verfassungsart voraussetzend, nachdem sie dies als wissend zugrunde gelegt, keine Rechenschaft weiter darüber weder sich noch andern geben zu dürfen glauben,

S510d  als sei dies schon allen deutlich, sondern hiervon beginnend gleich das weitere ausführen und dann folgerechterweise bei dem anlangen, auf dessen Untersuchung sie ausgegangen waren.

Allerdings, sagte er, dies ja weiß ich.

Auch daß sie sich der sichtbaren Gestalten bedienen und immer auf diese ihre Reden beziehen, unerachtet sie nicht von diesen handeln, sondern von jenem, dem diese gleichen und um des Vierecks selbst willen und seiner Diagonale ihre Beweise führen, nicht

S510e   um deswillen, welches sie zeichnen, und so auch sonst überall dasjenige selbst, was sie nachbilden und abzeichnen, wovon es auch Schatten und Bilder im Wasser gibt, deren sie sich zwar als Bilder bedienen,

S511a   immer aber jenes selbst zu erkennen trachten, was man nicht anders sehen kann als mit dem Verständnis.

Du hast recht, sagte er.

Diese Gattung also, sagte ich allerdings, sei auch Erkennbares, die Seele aber sei genötigt, bei der Untersuchung derselben sich der Voraussetzung zu bedienen, nicht so, daß sie zum Anfang zurückgeht, weil sie sich nämlich über die Voraussetzungen hinauf nicht versteigen kann, sondern so, daß sie sich dessen als Bilder bedient, was von den unteren Dingen dargestellt wird, und zwar derer, die im Vergleich mit den andern als hell und klar verherrlicht und in Ehren gehalten werden.

S511b     Ich verstehe, sagte er, daß du meinst, was zur Geometrie und den ihr verwandten Künsten gehört.

So verstehe denn auch, daß ich unter dem andern Teil des Denkbaren dasjenige meine, was die Vernunft unmittelbar ergreift, indem sie mittels des dialektischen Vermögens Voraussetzungen macht, nicht als Anfänge, sondern wahrhaft Voraussetzungen als Einschritt und Anlauf, damit sie bis zum Aufhören aller Voraussetzung, an den Anfang von allem gelangend, diesen ergreife, und so wiederum, sich an alles haltend, was mit jenem zusammenhängt, zum Ende //V257// hinabsteige,

S511c   ohne sich überall irgend etwas sinnlich Wahrnehmbaren, sondern nur der Ideen selbst an und für sich dazu zu bedienen, und so am Ende eben zu ihnen, den Ideen, gelange.

Ich verstehe, sagte er, zwar noch nicht genau, denn du scheinst mir gar vielerlei zu sagen, doch aber, daß du bestimmen willst, was vermittelst der dialektischen Wissenschaft von dem Seienden und Denkbaren geschaut werde, sei sicherer, als was von den eigentlich so genannten Wissenschaften, deren Anfänge Voraussetzungen sind, welche dann die Betrachtenden mit dem Verstande und nicht mit den Sinnen betrachten müssen. Weil sie aber ihre Betrachtung nicht so anstellen, daß sie bis zu den Anfängen

S511d  zurückgehen, sondern nur von den Annahmen aus, so scheinen sie dir keine Vernunfterkenntnis davon zu haben, obgleich, ginge man vom Anfange aus, sie ebenfalls erkennbar wären. Verstand aber scheinst du mir die Fertigkeit der Meßkünstler und was dem ähnlich ist, zu nennen, als etwas zwischen der bloßen Vorstellung und der Vernunfterkenntnis zwischeninne liegendes.

Vollkommen richtig, sprach ich, hast du es aufgefaßt! Und nun nimm mir auch die diesen vier Teilen zugehörigen Zustände der Seele dazu, die Vernunfteinsicht dem obersten, die Verstandesgewißheit

S511e   dem zweiten, dem dritten aber weise den Glauben an und dem vierten die Wahrscheinlichkeit; und ordne sie dir nach dem Verhältnis, daß soviel das, worauf sie sich beziehen, an der Wahrheit teilhat, soviel auch jedem von ihnen Gewißheit zukomme.

Ich verstehe, sagte er, und räume es ein und ordne sie, wie du sagst.

Das Höhlengleichnis (514a-517c)

 

S514a     Nächstdem, sprach ich, vergleiche dir unsere Natur in bezug auf Bildung und Unbildung folgendem Zustande. Sieh nämlich Menschen wie in einer unterirdischen, höhlenartigen Wohnung, die einen gegen das Licht geöffneten Zugang längs der ganzen Höhle hat. In dieser seien sie von Kindheit an gefesselt an Hals und Schenkeln, so daß sie auf demselben Fleck bleiben

S514b  und auch nur nach vornhin sehen, den Kopf aber herumzudrehen der Fessel wegen nicht vermögend sind. Licht aber haben sie von einem Feuer, welches von oben und von ferneher hinter ihnen brennt. Zwischen dem Feuer und den Gefangenen geht obenher ein Weg, längs diesem sieh eine Mauer aufgeführt, wie die Schranken, welche die Gaukler vor den Zuschauern sich erbauten, über welche herüber sie ihre Kunststücke zeigen.

Ich sehe, sagte er.

Sieh nun längs dieser Mauer Menschen

S514c   allerlei Gefäße tragen, die über die Mauer herüberragen,

S515a   und Bildsäulen und andere steinerne und hölzerne Bilder und von allerlei Arbeit; einige, wie natürlich, reden dabei, andere schweigen.

Ein gar wunderliches Bild, sprach er, stellst du dar und wunderliche Gefangene.

Uns ganz ähnliche, entgegnete ich. Denn zuerst, meinst du wohl, daß dergleichen Menschen von sich selbst und voneinander etwas anderes zu sehen bekommen als die Schatten, welche das Feuer auf die ihnen gegenüberstehende Wand der Höhle wirft?

Wie sollten sie, sprach er, wenn sie gezwungen sind, zeitlebens den Kopf unbeweglich zu halten!

S515b     Und von dem Vorübergetragenen nicht ebendieses?

Was sonst?

Wenn sie nun miteinander reden könnten, glaubst du nicht, daß sie auch pflegen würden, dieses Vorhandene zu benennen, was sie sähen?

Notwendig.

Und wie, wenn ihr Kerker auch einen Widerhall hätte von drübenher, meinst du, wenn einer von den Vorübergehenden spräche, sie würden denken, etwas anderes rede, als der eben vorübergehende Schatten? //V259//

Nein, beim Zeus, sagte er.

S515c     Auf keine Weise also können diese irgend etwas anderes für das Wahre halten als die Schatten jener Kunstwerke?

Ganz unmöglich.

Nun betrachte auch, sprach ich, die Lösung und Heilung von ihren Banden und ihrem Unverstande, wie es damit natürlich stehen würde, wenn ihnen folgendes begegnete. Wenn einer entfesselt wäre und gezwungen würde, sogleich aufzustehen, den Hals herumzudrehen, zu gehen und gegen das Licht zu sehen, und indem er das täte, immer Schmerzen hätte und wegen des flimmernden Glanzes nicht recht vermöchte, jene Dinge zu erkennen,

S515d  wovon er vorher die Schatten sah, was meinst du wohl, würde er sagen, wenn ihm einer versicherte, damals habe er lauter Nichtiges gesehen, jetzt aber, dem Seienden näher und zu dem mehr Seienden gewendet, sähe er richtiger, und ihm jedes Vorübergehende zeigend, ihn fragte und zu antworten zwänge, was es sei? Meinst du nicht, er werde ganz verwirrt sein und glauben, was er damals gesehen sei doch wirklicher, als was ihm jetzt gezeigt werde?

Bei weitem, antwortete er.

S515e     Und wenn man ihn gar in das Licht selbst zu sehen nötigte, würden ihm wohl die Augen schmerzen und er würde fliehen und zu jenem zurückkehren, was er anzusehen imstande ist, fest überzeugt, dies sei weit gewisser als das Letztgezeigte?

Allerdings.

Und, sprach ich, wenn ihn einer mit Gewalt von dort durch den unwegsamen und steilen Aufgang schleppte und nicht losließe, bis er ihn an das Licht der Sonne gebracht hätte, wird er nicht viel Schmerzen haben

S516a   und sich gar ungern schleppen lassen? Und wenn er nun an das Licht kommt und die Augen voll Strahlen hat, wird er nichts sehen können von dem, was ihm nun für das Wahre gegeben wird.

Freilich nicht, sagte er, wenigstens sogleich nicht.

Gewöhnung also, meine ich, wird er nötig haben, um das Obere zu sehen. Und zuerst würde er Schatten am leichtesten erkennen, hernach die Bilder der Menschen und der andern Dinge im Wasser, und dann erst sie selbst. Und ebenso, was am Himmel ist und den Himmel selbst würde er am liebsten in der Nacht betrachten und in das

S516b  Mond- und Sternenlicht sehen, als bei Tage in die Sonne und in ihr Licht.

Wie sollte er nicht!

Zuletzt aber, denke ich, //V260// wird er auch die Sonne selbst, nicht Bilder von ihr im Wasser oder anderwärts, sondern sie selbst an ihrer eigenen Stelle anzusehen und zu betrachten imstande sein.

Notwendig, sagte er.

Und dann wird er schon herausbringen von ihr, daß sie es ist, die alle Zeiten und Jahre schafft und alles ordnet

S516c   in dem sichtbaren Raume, und auch von dem, was sie dort sahen, gewissermaßen die Ursache ist.

Offenbar, sagte er, würde er nach jenem auch hierzu kommen.

Und wie, wenn er nun seiner ersten Wohnung gedenkt und der dortigen Weisheit und der damaligen Mitgefangenen, meinst du nicht, er werde sich selbst glücklich preisen über die Veränderung, jene aber beklagen?

Ganz gewiß.

Und wenn sie dort unter sich Ehre, Lob und Belohnungen für den bestimmt hatten, der das Vorüberziehende am schärfsten sah und sich am besten behielt, was zuerst zu kommen pflegte und was zuletzt

S516d  und was zugleich, und daher also am besten vorhersagen konnte, was nun erscheinen werde, glaubst du, es werde ihn danach noch groß verlangen und er werde die bei jenen Geehrten und Machthabenden beneiden? Oder wird ihm das Homerische begegnen und er viel lieber wollen das Feld als Tagelöhner bestellen einem dürftigen Mann und lieber alles über sich ergehen lassen, als wieder solche Vorstellungen zu haben wie dort und so zu leben?

S516e     So, sagte er, denke ich, wird er sich alles eher gefallen lassen, als so zu leben.

Auch das bedenke noch, sprach ich. Wenn ein solcher nun wieder hinunterstiege und sich auf denselben Schemel setzte, würden ihm die Augen nicht ganz voll Dunkelheit sein, da er so plötzlich von der Sonne herkommt?

Ganz gewiß.

Und wenn er wieder in der Begutachtung jener Schatten wetteifern sollte mit denen, die immer dort gefangen gewesen, während es ihm noch vor den Augen flimmert,

S517a   ehe er sie wieder dazu einrichtet, und das möchte keine kleine Zeit seines Aufenthalts dauern, würde man ihn nicht auslachen und von ihm sagen, er sei mit verdorbenen Augen von oben zurückgekommen und es lohne nicht, daß man versuche hinaufzukommen; sondern man müsse jeden, der sie lösen und hinaufbringen wollte, wenn man seiner nur habhaft werden und ihn umbringen könnte, auch wirklich umbringen?

So sprächen sie ganz gewiß, sagte er. //V261//

Dieses ganze Bild nun, sagte ich, lieber Glaukon,

S517b  mußt du mit dem früher Gesagten verbinden, die durch das Gesicht uns erscheinende Region der Wohnung im Gefängnisse gleichsetzen und den Schein von dem Feuer darin der Kraft der Sonne; und wenn du nun das Hinaufsteigen und die Beschauung der oberen Dinge setzest als den Aufschwung der Seele in die Gegend der Erkenntnis, so wird dir nicht entgehen, was mein Glaube ist, da du doch dieses zu wissen begehrst. Gott mag wissen, ob er richtig ist; was ich wenigstens sehe, das sehe ich so, daß zuletzt unter allem Erkennbaren und nur mit Mühe die

S517c      Idee des Guten erblickt wird, wenn man sie aber erblickt hat, sie auch gleich dafür anerkannt wird, daß sie für alle die Ursache alles Richtigen und Schönen ist, im Sichtbaren das Licht und die Sonne, von der dieses abhängt, erzeugend, im Erkennbaren aber sie allein als Herrscherin Wahrheit und Vernunft hervorbringend, und daß also diese sehen muß, wer vernünftig handeln will, es sei nun in eigenen oder in öffentlichen Angelegenheiten.