Es stellt sich die Frage, ob und inwiefern wir eine „Ethik des Anthropozäns“ systematisch entwickeln können. Diese Frage hängt damit zusammen, ob wir der These zustimmen, dass der Begriff des Anthropozäns (i) sinnvoll und (ii) für die aktuelle Situation der Welt angemessen ist. Wenn wir die Auffassung vertreten, dass diese beiden Bedingungen erfüllt sind, dann gilt es, die spezifischen Prämissen des Anthropozäns zu explizieren, auf deren Grund dann eine Ethik entwickelt werden muss. Die neuen Prämissen des Anthropozäns können wir etwa folgendermaßen formulieren:
(1) Im Anthropozän verschmelzen erste und zweite Natur (bzw. Kultur).
(2) Dem Anthropozän liegt eine andere raumzeitliche Handlungskausalität zugrunde.
(3) Dem Anthropozän liegt eine andere Handlungssubjektivität zugrunde.
(4) Das Gute bzw. Böse im Anthropozän ist ein Hybrid aus natürlichem und moralischem Guten bzw. Bösen.
Zu (1): Natur und Kultur stehen sich im Anthropozän nicht mehr getrennt als Subjekt und Objekt gegenüber, sondern die Natur ist durch menschliches Handeln und menschliche Produkte tiefgreifend strukturiert und überformt. Die Natur ist nicht mehr das Andere des Menschen, sondern der Mensch erkennt sich zunehmend selbst in der Natur. Allerdings ist diese Selbsterkenntnis nur mittelbar möglich, und nicht selten auf negative Weise, insofern etwa scheinbare Naturkatastrophen als anthropogene Umwelt- oder Klimakatastrophen erkannt werden müssen. Dies wiederum führt zur Problematik, dass wir dazu neigen, tatsächliche anthropogene Umweltkatastrophen als bloße Naturkatastrophen zu rationalisieren.
Zu (2): Im Anthropozän verändert sich unsere gewohnte Handlungslogik. Denn die Folgen unseres Handelns sind raumzeitlich vermittelt. Wir können nicht mehr, nach der klassischen Kausalitätstheorie von David Hume, Kausalität durch raumzeitliche Nähe eines Ereignisses B auf ein Ereignis A bestimmen. Die Handlungsfolgen treten raumzeitlich verzögert auf und lassen sich epistemisch nicht mehr unmittelbar mit ihren Ursachen assoziieren. Um unsere Handlungskausalität zu bestimmen, benötigen wir die Mithilfe der Naturwissenschaften und können diese nicht mehr durch Introspektion verstehen.
Zu (3): Im Anthropozän können wir nicht mehr von individuellen Akteuren sprechen, denen Handlungsfolgen eindeutig zugerechnet werden können. Vielmehr sind im Anthropozän kollektive Personen handlungswirksam, wie etwa Gruppen, Gemeinschaften, Staaten, Institutionen oder Unternehmen. Handlungen werden insbesondere anhand von kommerziellen Produkten als Medien kollektiver Willensbildung und Kristallisationen kollektiver Absichten sichtbar und wirkmächtig. Ein Beispiel dafür ist etwa Mikroplastik, das sich mittlerweile in kleinen Krebsen in mehreren Kilometern Meerestiefe findet. Unser Handeln im Anthropozän ist also immer vermittelt durch kollektive Willensbildungen und Produktdesign. Als solches ist es in der Regel abhängig von kommerziellen Interessen, die sich transnational manifestieren.
Zu (4): Das Gute und Böse im Anthropozän als normative Kategorien lässt sich nicht mehr im Bereich menschlicher Intersubjektivität verorten, sondern manifestiert sich an und in der Natur. Normativität und Natur sind nicht mehr getrennte Sphären, wie es etwa der „naturalistische Fehlschluss“ bei G.E. Moore behauptet, sondern die Natur ist normativ durchwirkt. Anthropozänisches Böses zeigt sich etwa in Formen von Umweltkatastrophen, die ihrerseits als natürliches Übel dem Menschen viel Schaden anfügen können. Anthropozänisches Gutes hingegen kann sich darin zeigen, dass natürliche Zusammenhänge so gestaltet werden, dass ein ökologisches Gleichgewicht aufrechterhalten wird, welches sich dann positiv auf den Menschen auswirkt. Dieses Gleichgewicht lässt sich auch ästhetisch im Sinne einer Harmonie weiter verständlich machen.