Searle und Kant über Rationalität und Irrationalität

Wie unterscheidet sich die Rationalität von Menschen von derjenigen von Affen oder etwas breiter: von Tieren? John Searle (*1932) kritisiert das Standardmodel der Rationalität dafür, nicht mehr als eine Art fortgeschrittener Affen-Rationalität zu exemplifizieren. Affen handelten nach einer instrumentellen Mittel-Zweck-Rationalität und analog ist auch die Standardansicht über Rationalität von einem Mittel-Zweck Gedanken durchdrungen. Das ökonomische Model der Nutzenmaximierung ist ein wichtiger (oder sogar: der) Hintergrund dieses Standardmodels. Wer etwas will, egal wie relevant der Wunsch ist, der ist in seinem Handeln rational (oder wenigstens nicht irrational), wenn er die richtigen Mittel zum Erreichen dieses Ziels ergreift. Das war schon David Humes (1711-1776) These: ‘”’Tis not contrary to the dictates of reason, to prefer the destruction of the whole world to the scratching of my little finger.’’ Dem Standardmodell nach sind uns Wünsche und Präferenzen gegeben – Rationalität besteht in der Umsetzung dieser Wünsche in eine Handlung, also in Handlungsfreiheit. Rationalität kann nach Hume nicht mit unseren Wünschen konkurrieren, und sie kann selbst auch keinen Wunsch oder Emotion hervorbringen. Sie ist nur die „Sklavin der Affekte“.

Glaubt man Searle, dann ist das eine Verkürzung von Rationalität: Wir haben keine Wahl über unsere Wünsche oder Präferenzen, die wir, der Hume’schen Tradition nach, schlicht in uns vorfinden. Searle setzt dagegen, dass die Ordnung dieser Präferenzen selbst eigentliche Rationalität ist, eine Rationalität, die in dem Standardmodel nicht vorkommt. Damit ist dieses Standardmodell irrational, weil es von dem genuinen Ort der Rationalität abstrahiert.

Sind Gründe nur Ursachen, dann gibt es keinen Ort, keine Lücke für echte Rationalität und auch nicht für Freiheit. Die Lücke zwischen Grund und Handlung ist der Ort, an dem wir frei entscheiden (Willensfreiheit). Dieser Ort der Willensfreiheit ist in Affen noch nicht vorhanden – ihnen fehlt Reflektionsfähigkeit, Selbstbewusstsein usw.

In dem Kurs haben wir sehr kritisch diskutiert, ob Searle nicht sein Bild des Tieres zu verengt zeichnet – denn auch Tiere (wenigstens Affen) erkennen sich selbst im Spiegel (vorreflexives-Selbstbewusstsein). Tiere können (entgegen Searle) bewusst täuschen (Raben). Tiere bauen komplexe Instrumente, usw.

Wir ordnen also in unserer Rationalität die Wünsche und Begehrungen (desires), die uns als Antezedens gegeben sind. Nun scheint aber – das ist jedenfalls Searles Argument – nicht einmal alles, was wir tun, auf desires fundiert zu sein. Denn ich kann mir Fälle denken, in denen ich etwas tue, ohne auch nur das geringste desire zu empfinden.

Wir haben dann noch diskutiert, ob es möglich ist, den Pflichtbegriff bei Kant auf einer Art instrumenteller Vernunft zu installieren oder nicht. Regelfolgen in Einzelfällen folgt dem Kategorischen Imperativ (KI), der allgemeinsten Regel, die reiner Selbstzweck ist und – in einer gewissen Weise – ein Mittel zu dem Zweck des KI an sich selbst. Das ist die große Frage, ob und inwieweit ein akratisches Handlungsmoment schon in Basisrationalität angelegt ist: Kant sieht es so, dass in der Einsicht der richtigen Handlung ein volitionales Moment mitgegeben ist, dass aber nicht notwendig in eine Handlung übergeht. Der KI ist mit der Willensbildung und nur abgeleitet mit der Handlungsumsetzung befasst.

Ob wir diese Struktur als rational auszeichnen können, ist eine tiefgehende Frage, denn im Zweifelsfall brächte es dann noch mal eine Form der Metarationalität.

Die Handlungsumsetzung ist wenigstens traditionell ebenfalls eine Anforderung an Rationalität: Wer das Ziel will, will die Mittel – und ist damit aber eine instrumentelle Rationalität. Das ist Kants Bestimmung hypothetischer Imperative: „Wer den Zweck will, will (so fern die Vernunft auf seine Handlungen entscheidenden Einfluß hat) auch das dazu unentbehrlich nothwendige Mittel, das in seiner Gewalt ist“ (4:417). Damit scheint instrumentelle Rationalität doch wenigstens eine vermittelnde Rolle in der Implementation von Prinzipien innezuhaben.

In Rationalitätsdebatten wird das traditionell als Problem betrachtet. Searle sieht es als einen normalen Zustand.

Damit sind wir bei Kant.

Die Dialektik der Vernunft. Die reine Vernunft verstrickt sich in Widersprüche. Kant legt dar, dass die Sinne an sich nicht urteilen. Erst wo ein Urteil ist, kann Wahrheit und Täuschung sein. Im Mittelalter vertrat man dagegen teilweise einen ontologischen Wahrheitsbegriff, wonach die Dinge wahr oder falsch (täuschend) sind. Wir haben das recht ausführlich an dem Beispiel einer Fata Morgana in der Wüste erläutert. P urteilt, sie sehe Wasser und ist damit dem Irrtum verfallen. Ohne ihr Urteil weiß sie nur, dass sie eine Fata Morgana sieht.

Das kann man sich an dem Operator des so-scheinens gut bewusst machen. P kann sich irren, dass Q. Aber sie kann sich nicht irren, dass es ihr so scheint, dass Q, wenn es ihr so scheint, dass Q.

So-scheinen{Q}

Der so-scheinen-Operator klammert also ihr Urteil über ihre Wahrnehmung ein und macht es damit selbst zu einer Art Gegenstand der Sinne (Ich weiß, während es mit so scheint das Q, dass es mir so scheint, dass Q und ich weiß, dass das nicht notwendig im Modus des Urteilens, sondern im Modus einer prä-reflexiven Selbsterfahrung ist, die Bedingung der Möglichkeit von Wissen überhaupt ist. – Das „ich denke“, dass alle meine Gedanken begleiten können muss. Hier nicht als ich-denke simpliciter, sondern ich-denke-{Q}. Das Ich ist nur Form, aber der materiale Gehalt des Urteils ist unfehlbar – dass

So-scheinen{Q} ist kein Urteil´, sondern ein präreflexives Faktum.