Fichtes Moralphilosophie ist nur schwer vor dem Hintergrund seines Systemgedankens seiner Sittenlehre zu entdecken. Es scheint, als ob Fichte dem System gegenüber der Moralbegründung eine größere Bedeutung beimisst, die Moralbegründung der Systembegründung nachordnet. Allerdings muss der Primat des Systems nicht so verstanden werden, dass dadurch die moralphilosophischen Überlegungen weniger Gewicht haben. Vielmehr sind Systemform und Moralbegründung bei Fichte aufs Engste verbunden. Das System ist der Moralphilosophie nichts Äußeres, sondern ist vielmehr selbst normativ relevant. Denn Fichte betont, dass die Systemform dazu dienen soll, seine Moraltheorie gegenüber skeptischen Einwänden zu schützen. Damit trägt das System wesentlich zur Etablierung seiner Moralphilosophie bei und verleiht ihr gewissermaßen formale Normativität. Anders als Kant bestimmt Fichte das normative Prinzip der Sittlichkeit nicht im Sinne des vernünftigen Maximentests des kategorischen Imperativs, sondern durch den „notwendige[n] Gedanke der Intelligenz, dass sie ihre Freiheit nach dem Begriffe der Selbstständigkeit, schlechthin ohne Ausnahme, bestimmen solle“ (58). Das Prinzip der Sittlichkeit basiert also auf dem normativen Ideal der absoluten Selbstbestimmung und Unabhängigkeit von heteronomen Einflüssen. Fichte fasst die Normativität der Autonomie als „Ausdruck für die Bestimmtheit der Freiheit“ (58). Gegenüber Kants Sittengesetz, welches die vernünftige Verallgemeinerbarkeit unserer Maximen fordert, ist nach Fichte das Gesetz „der Begriff der absoluten Selbstständigkeit“, „weil es die ursprüngliche Bestimmung des freien Wesens enthält“ (58). Fichte bestimmt den „Endzweck des Sittengesetzes“ als „absolute Unabhängigkeit, und Selbständigkeit, nicht etwa bloß in Absicht unseres Willens, denn dieser ist immer unabhängig, sondern in Absicht unseres ganzen Seins“ (205). Nach Fichte ist eine solche absolute Selbständigkeit unseres empirisch-vernünftigen Wesens jedoch „unerreichbar“, obwohl „eine stete und ununterbrochene Annäherung zu demselben statt[findet]“ bzw. stattfinden soll (205). Das Gesetz der Freiheit fordert, dass wir uns durch eine „stete ununterbrochene Reihe von Handlungen“ diesem Autonomie-Ideal annähern. Das Gewissen besitzt die Funktion darüber normativ-emotional zu urteilen, ob unsere Handlungen auf oder neben der Freiheits-Spur liegen: „Nur was als Punkt in dieser Linie liegt, ist zu billigen, und schlechthin nichts, was außer ihr liegt.“ (205) Nach Fichte ist das Ich begrifflich-notwendig darauf ausgerichtet, ein Ich zu sein. Deswegen bestimmt Fichte jede „Beschränktheit“ dieses Triebes als „keine ursprüngliche“, sondern als „eine solche, die wir selbst durch unsere unvollständige Reflexion uns zugefügt haben. Wir selbst haben uns mit weniger begnügt, als wir fordern konnten.“ (208) Daraus erklärt sich auch das Böse als ein Mangel an Reflexion und Repräsentation des Sittengesetzes, der uns jedoch nicht ursprünglich charakterisiert, sondern dessen Grund in unserer Freiheit zu suchen ist. Hier stellt sich jedoch die Frage, wie wir aus Freiheit gegen das Gesetz der Freiheit handeln können. Sind wir noch frei, wenn wir nicht mehr auf der Freiheits-Spur liegen, und können wir uns aus Freiheit für diese Spur entscheiden? Das Sittengesetz fordert nach Fichte nicht die vernünftige Verallgemeinerbarkeit unserer Maximen, sondern die synthetische Vereinigung von Ich und absoluter Selbständigkeit. „Synthetisch“ bedeutet hier, dass beide Begriffe dynamisch durch den Trieb nach absoluter Selbständigkeit verbunden werden. Aus dieser Synthese leitet Fichte den „materiellen Inhalt des Sittengesetzes“ her. Der „Endzweck“ meiner Existenz besteht nach Fichte darin, ein „selbständiges Ich“ zu sein (208). Alle Dinge außer mir haben, sofern sie nicht autonom sind, den Endzweck, autonomen Wesen zu ihrem Endzweck zu verhelfen, d.h. ihre Autonomie zu befördern.
Eine besondere Rolle kommt dem Begriff des Leibes zu. Der Leib ist der beseelte oder lebendige Körper. Er bezeichnet die Schnittstelle zwischen Ich und Nicht-Ich, zwischen Vernunft und Natur. Da der Leib die Verkörperung, gewissermaßen die empirische Außenseite des autonomen Ichs ist, stellt dieser den Zweck der Natur dar (211 f.). Trotz seiner Insistenz auf die absolute Selbständigkeit des Ichs existiert nach Fichte das Ich nicht solipsistisch und solitär, sondern seine Freiheit „ist durch die Freiheit des anderen bedingt“ (218). Die Freiheit des anderen ist „die Bedingung seiner eignen Möglichkeit“ des Triebs nach Selbständigkeit. Nach Fichte ist in dem Gebot nach absoluter Selbständigkeit auch das Verbot enthalten, die absolute Selbständigkeit anderer freier Wesen einzuschränken und zu stören: „Ich darf nicht selbständig sein, zum Nachteil der Freiheit anderer.“ (218) Absolute Freiheit des eigenen Ichs und der anderen Ichs schließen sich nicht aus, sondern bedingen sich vielmehr. Fichte überträgt damit die absolute Forderung nach dem Zweck an sich bei Kant auf die absolute Forderung nach Freiheit. Nach Fichte müssen wir uns notwendigerweise bei jeder freien Handlung beschränken. Der Grund dafür scheint darin zu liegen, dass wir als endliche Wesen immer nur eine endliche Freiheit besitzen, die gleichermaßen selbstbestimmt ist. Andere freie Wesen können nach Fichte unmittelbar auf das eigene Ich einwirken „wie Freie auf Freie; mich auffordern, zur freien Tätigkeit.“ (220) Freie Wesen stören sich also nicht und kollidieren auch nicht miteinander, wie es mechanische Billardkugeln tun. Vielmehr interferieren Sie so miteinander, dass ihre aufeinander gerichtete Freiheit sie jeweils bestimmt und erst ihre Freiheit ermöglicht. Die Grenze der Freiheit des anderen Ichs markiert meine moralische Grenze: „Wo meine moralische Macht Widerstand findet, kann nicht Natur sein. Schaudernd stehe ich stille. Hier ist Menschheit! ruft es mir entgegen; ich darf nicht weiter.“ (221) Deswegen bestimmt Fichte die freien Handlungen anderer Personen „als Grenzpunkte meiner Individualität“ (223). Diese Grenzpunkte sind in einem zweifachen Sinn zu verstehen: Sie beschränken und bestimmen zugleich unsere Freiheit.