Das Wort „Virtualität“ steht im Verdacht, ein „Modewort“ oder ein „Zauberwort“ zu sein, welches gut klingt, jedoch eigentlich nichts Konkretes oder Verständliches bezeichnet. Zu unklar ist das Verhältnis von Virtualität zu verwandten Begriffen wir Simulation, Illusion oder Fiktion. Der Konstanzer Wissenschaftstheoretiker Jürgen Mittelstraß hat deswegen die These vertreten, dass das Virtuelle „keine Domäne der Wissenschaft“ sei und sogar davor gewarnt: „Hüten wir uns davor, dass in unseren eigenen Köpfen das Virtuelle die Macht über alles Reale gewinnt, das Irrationale, das unsere Träume besetzt, die Macht über das Rationale, eine Scheinwelt die Macht über das Leben.“ Im Gegensatz zu Mittelstraß argumentiert das „Handbuch Virtualität“ dafür, Virtualität als einen lebensweltlichen Faktor ernst zu nehmen: „Virtualität hat im 21. Jahrhundert eine Normalisierung in zahlreichen gesellschaftlichen Bereichen erfahren. War das Virtuelle noch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts von euphorischen bis apokalyptischen Reaktionen um den Menschen im Cyberspace begleitet, hat es inzwischen Eingang in zahlreiche standardisierte Praktiken gefunden.“ (1) Dennoch spricht das „Oxford Handbook of Virtuality“ davon, dass eine “ontological confusion about virtual reality and its relation to the real world” bestehe, die zu einem “flawed understanding of virtual reality and its potential“ führe (15).
Eine Philosophie der virtuellen Realität muss deshalb zunächst einmal die Begriffe „Virtualität“ und „Realität“ für sich genommen bestimmen und dann systematisch aufeinander beziehen, nicht zuletzt darum, dem Verdacht einer bloßen „Modephilosophie“ zu entgehen. Denn warum sollte man sich gerade mit virtueller Realität auseinandersetzen, wenn doch offenkundig eine „Philosophie der Glühbirne“ sinnlos erscheint? Aus dem Anspruch, virtuelle Realität philosophisch zu bestimmen, entstehen drei Fragen:
(i) Was ist Virtualität (im Gegensatz zu Wirklichkeit und Möglichkeit)? (modale Frage)
(ii) Was ist Realität (im Gegensatz zu Illusion, Simulation und Fiktion)? (ontologische Frage)
(iii) Was ist virtuelle Realität? (modal-ontologische Frage)
Wir können zwischen einer Kontinuitätsthese und einer Disruptionsthese virtueller Realität unterscheiden. Diese behauptet, dass virtuelle Realität erst mit der Entwicklung neuer Medien und VR-Technologie ermöglicht wurde. Jene vertritt die Auffassung, dass virtuelle Realität immer schon Teil der menschlichen Kultur war und sich etwa in Form von Zahlungsmitteln zeigt, die ihren Wert nicht an sich selbst bzw. physisch haben, sondern ‚nur‘ virtuell. Tatsächlich spricht vieles für die Kontinuitätsthese, denn sie macht die Ontologie und Teleologie virtueller Realität besonders lebensweltlich konkret verständlich. Eine Banknote hat ihren Wert nicht auf materieller, physischer Basis, sondern nur dank objektiver intersubjektiver Verfahren und Institutionen. Virtuelle Realität ist damit klar zu unterscheiden von bloßer Fiktion, Simulation und Illusion, auch wenn sie Momente davon besitzt.
Die Begriffsgeschichte der Virtualität ist komplex, lässt jedoch folgende Kernbestandteile erkennen:
Kraft: kausal wirksam, wenn auch nicht offenkundig oder eigentlich (Thomas von Aquin)
Mittelbarkeit: nicht unmittelbar, offensichtlich enthalten, sondern nur auf verwickelte, uneigentliche Weise, dafür aber hinsichtlich der Wirkung und des Zwecks (Leibniz)
Raumlosigkeit: Virtualität als Form der Existenz, die nicht physisch vorkommt und lokalisierbar ist (Kant)
Vergeistigung: Virtualität als Form von Freiheit und Folge kultureller Entwicklung (nicht deterministisch, naturwissenschaftlich verständlich und reduzierbar) (Bouterweck)
Das Verhältnis zwischen physischer Realität und virtueller Realität ist komplex. Wir können zwischen drei möglichen Verhältnissen unterscheiden:
(1) Verdopplung: Die virtuelle Realität existiert neben bzw. ‚über‘ der physischen Realität
(2) Ersetzung: Die virtuelle Realität ersetzt die physische Welt (sukzessive)
(3) Erweiterung: Die virtuelle Realität ergänzt und erweitert die physische Welt