Zusammenfassung 3. Sitzung, 10.5.2019 – Digitalität und Digitalisierung

Inwiefern ist das Thema „Digitalisierung“ von philosophischem Interesse? Genügt es nicht, dieses soziologisch, politisch oder informationswissenschaftlich zu analysieren? Oder aber sollten wir nicht gleich das Thema aus der Sicht der Zukunftsforschung oder der science ficiton betrachten? Philip Specht, Autor des Buches „Die 50 wichtigsten Themen der Digitalisierung“, behauptet, die Digitalisierung werde uns „mit der wohl größten zivilisatorischen Herausforderung konfrontieren, die es je zu bewältigen galt.“ (10) Angesichts der zunehmenden und immer unübersichtlicheren Datenflut, die die Digitalisierung mit sich führt, werden immer mehr Stimmen laut, die eine kritische ethische Reflexion auf ihre Folgen fordern. Gerade auch bei posthumanistischen Projekten, die tief in die Natur des Menschen eingreifen wollen, tritt immer häufiger die Philosophie auf den Plan. In seinem Buch „Digitaler Humanismus“ kritisiert etwa Julian Nida-Rümelin eine „Silicon-Valley-Ideologie“, der er vorwirft, die Erforschung der künstlichen Intelligenz metaphysisch aufgeladen und zu einer Glaubensfrage habe werden lassen (S. 18). Doch erschöpft sich die philosophische Analyse nicht in konservativen ethischen Stellungnahmen. Hier bietet sich der Begriff der „Digitalität“ an, die verschiedenen Folgen, Dimensionen und Realitäten der Digitalisierung eingehend zu würdigen.

Der Schweizer Kulturwissenschaftler Felix Stalder hat sich dem Phänomen der Digitalität aus dezidiert kulturwissenschaftlicher Perspektive angenommen. In Anknüpfung an den Begriff der „Gutenberg-Galaxis“, den der kanadische Kulturwissenschaftler Marshall McLuhan in seinem gleichnamigen Buch 1962 geprägt hat, um den Paradigmenwechsel von der mündlichen zur schriftlichen Kommunikationsform zu bezeichnen, spricht Stalder davon, dass wir seit dem Jahr 2000 „eine neue kulturelle Konstellation“ vorfinden, welche „neue, widersprüchliche und konfliktreiche politische Dynamiken“ prägt (11). Stalder spricht davon, dass es sich bei der Digitalität um eine einzige Kultur handle, die durch drei Formen näher charakterisiert werden könne:

  1. Referentialität: „die Nutzung bestehenden kulturellen Materials für die eigene Produktion, ist eine zentrale Eigenschaft vieler Verfahren, mit denen sich Menschen in kulturelle Prozesse einschreiben. Im Kontext einer nicht zu überblickenden Masse von instabilen und bedeutungsoffenen Bezugspunkten werden Auswählen und Zusammenführen zu basalen Akten der Bedeutungsproduktion und Selbstkonstitution.“ (13) „Kultur, verstanden als geteilte soziale Bedeutung, heißt, dass sich ein solches Vorhaben nicht auf den Einzelnen beschränken kann. Vielmehr vollzieht es sich innerhalb eines größeren Rahmens, für dessen Existenz und Entwicklung gemeinschaftliche Formationen von zentraler Bedeutung sind.“ (95)
  2. Gemeinschaftlichkeit: „Nur über einen kollektiv getragenen Referenzrahmen können Bedeutungen stabilisiert, Handlungsoptionen generiert und Ressourcen zugänglich gemacht werden. Dabei entstehen gemeinschaftliche Formationen, die selbstbezogene Welten hervorbringen, die unterschiedliche Dimensionen der Existenz – von ästhetischen Präferenzen bis hin zu Methoden der biologischen Reproduktion und den Rhythmen von Raum und Zeit – modulieren. In ihnen wirken Dynamiken der Netzwerkmacht, die Freiwilligkeit und Zwang, Autonomie und Fremdbestimmung in neuer Weise konfigurieren.“ (13)
  3. Algorithmizität: „automatisierte Entscheidungsverfahren, die den Informationsüberfluss reduzieren und formen, so dass sich aus den von Maschinen produzierten Datenmengen Informationen gewinnen lassen, die der menschlichen Wahrnehmung zugänglich sind und zu Grundlagen des singulären und gemeinschaftlichen Handelns werden können. Angesichts der von Menschen und Maschinen generierten riesigen Datenmengen wären wir ohne Algorithmen blind.“ (13)

Die ersten beiden Formen, Referentialität und Gemeinschaftlichkeit, scheinen bereits bei anderen Kulturen vorhanden zu sein und die Kultur der Digitalität nicht exklusiv zu charakterisieren. Entscheidend ist dagegen die Form der Algorithmizität, die im Zuge der Digitalisierung neu entstanden ist. Es handelt sich hierbei um die Integration externer automatisierter Prozesse, die sich einer künstlichen Intelligenz verdanken. Algorithmizität hilft uns, Orientierung in der Unübersichtlichkeit der digitalen Datenflut zu schaffen. Hier zeigt sich besonders die neuartige Epistemologie der Digitalität, die mit der Ontologie eng verbunden ist: Was sich im Internet nicht finden lässt (etwa über eine Suchmaschine), scheint auf den ersten Blick nicht zu existieren.

Zu fragen bleibt dennoch, ob es nicht auch eine genuin philosophische Dimension der Digitalität gibt, jenseits ethischer und humanistischer Reflexionen darauf. Diese ontologischen, epistemologischen und ästhetischen Dimensionen gilt es herauszuarbeiten. Dazu wird es nötig sein neue Begriffe zu prägen, die das Phänomen der Digitalität philosophisch weiter erschließen und es von Formen der bloßen Kultur (als zweiter Natur) im Sinne einer „dritten Natur“ unterscheiden.