Zusammenfassung, 4. Sitzung, 25.11.2020 – Ulrichs „Eleutheriologie“

Johann August Heinrich Ulrich (1746-1813) ist einer jener nachkantischen Denker, die bislang fast unbekannt sind. Dennoch hat Ulrich in seiner „Eleutheriologie“ (dt. „Freiheitslehre“) aus dem Jahr 1788 in eigenständiger Weise Kants Freiheitslehre interpretiert und auch scharfsinnig kritisiert. Ulrich war stark beeinflusst von rationalistischen Denkern wie Leibniz. Leibniz hatte in seiner Philosophie einen konsequenten Determinismus vertreten. Auch freie Handlungen sind ihm zufolge vollständig determiniert, da sie dem Prinzip des zureichenden Grundes („Alles hat eine Ursache“) unterliegt. Dieses Prinzip garantiert nach Leibniz die rationale Verständlichkeit der Welt. Ulrich unterscheidet zwischen physischer und sittlicher Notwendigkeit. Notwendigkeit bedeutet ganz allgemein, „daß, bey Sezung gewisser Umstände, etwas anders unausbleiblich gesezt wird, und das Gegentheil unter vollkommen denselben Umständen nicht möglich ist.» (16) Unter Zufall versteht Ulrich hingegen «ein Entstehen, ein Werden, welches keine entscheidenden Gründe hat, sondern, wo unter vollkommen denselben Umständen, da etwas geschah, eben so gut das Gegentheil geschehen konnte.» (19) Ulrich interpretiert Kants Begriff transzendentaler Freiheit als einen «künstlich genug eingeleiteten Versuch, Freiheit und Natur-Nothwendigkeit mit einander zu vereinigen“, um „ein[en] Mittelweg zwischen Nothwendigkeit und Zufall“ einzuschlagen (19). Analog zur Unterscheidung zwischen Notwendigkeit und Zufall unterscheidet Ulrich zwischen Deterministen und Indeterministen. „Determinist ist derjenige, welcher lehrt, daß alles, was geschieht, seine entscheidenden Gründe habe; folglich, daß es zu der Zeit, und unter den gesammten Umständen, da es geschieht, nicht ausbleiben, oder schon jezt anders seyn konnte […]. Der Indeterminist hingegen bildet sich ein, daß der menschliche Geist, oder auch ein jedes vernünftiges Wesen, das Vermögen besitze, unter vollkommen denselben innern und äusern Umständen, in vollkommen demselben ganz unverändert gedachten gesammten Zustande, wollen und nicht wollen, oder auch das Gegentheil von dem, was er nun würklich beschliest, wollen zu können. Das jedesmalige endliche Wollen hat demnach keine entscheidenden Gründe, und ist in dem Verstande ein wahrer Zufall.» (20 f.) Ulrichs These lautet nun gegen Kants kompatibilistisches Unternehmen gerichtet, dass es «schlechterdings keinen Mittelweg zwischen Nothwendigkeit und Zufall, zwischen Determinismus und Indeterminismus» (16) gibt. Ulrich argumentiert, dass Kant gar nicht in das Raster von Determinismus und Indeterminismus passe. Er sei «ein solches sonderbares Neutrum, daß ein anderer Linnäus, bey einer versuchten Klaßifikation der Philosophen, selbst in Verlegenheit gerathen würde, ob er nicht daraus eine neue Species machen solle.» (22) «In Ansehung des intelligibeln Charakters» habe Kant «sich auf eine so künstliche Weise zu erklären gewußt, daß er von einer Seite eben sowohl der Naturnothwendigkeit, (nach seinem genau festzuhaltenden Begriff) als von der andern dem Zufall, d. i. einem Entstehen ohne entscheidende Gründe, ausweicht.» (32) Kant hatte in seiner Kritik der reinen Vernunft transzendentale Freiheit bestimmt als «ein Vermögen, sich unabhängig von der Nöthigung durch sinnliche Antriebe von selbst zu bestimmenUlrich fragt nun sehr konsequent, «ob dies Vermögen auch unabhängig von allen andern Gründen, die nicht sinnliche Antriebe, nicht blos Erscheinungen sind, nicht der Zeit nach vorhergehen, angewendet werde oder nicht?» (24) Es stellt sich also für Ulrich die Frage, ob das Vermögen der Vernunft, welches nach Kant außerhalb von Raum und Zeit existiert, nicht doch der Zeit unterworfen sein muss, um Veränderungen in der Entscheidung hervorzubringen. Dies würde aber in einen bloßen Indeterminismus und in Zufall führen: «Die Anwendung des Vermögens, dessen Anwendung unterlassen werden kann, und die Unterlassung der Anwendung, welche doch zuweilen statt findet, läßt sich ohne Zeitbestimmung, ohne ein Entstehen und Anheben, unmöglich denken.» (34) Deswegen stellt sich nach Ulrich die Frage, «ob nicht im intelligibeln Charakter selbst Gründe der Bestimmung des intelligibeln Vermögens sich finden, welche zwar der Zeit nach nicht vorhergiengen, aber doch Gründe wären, auf welchen Fall alsdann Naturnothwendigkeit in anderm Verstande (§. 5.) statt finden würde.» (32) Es ist Ulrich also nicht ersichtlich, wie die absolute reine Vernunft, die nach Kant transzendentale Freiheit ermöglicht, «so ganz verschiedene Würkungen zu verschiedenen Zeiten in der Erscheinung hervorbringen» kann (35).