Das Wort „Normativität“ leitet sich ab von lat. „norma“, was so viel bedeutet wie Richtschnur, Maßstab, Regel, Vorschrift, aber auch im übertragenen Sinne „rechter Winkel“. Unter Normativität verstehen wir in philosophischer Hinsicht eine bestimmte Geltung und Verbindlichkeit. Normativität bezeichnet den Bereich des Sollens. Normative Sätze drücken nicht aus, wie etwas ist, sondern wie etwas sein soll. Insofern lässt sich Normativität auch in Form von Gesetzen und Geboten ausdrücken. Normativität kann in ganz verschiedenen Bereichen gelten, vor allem und am strengsten in der Moral, aber auch im Recht und selbst in der Kunst.
Aus philosophischer Perspektive stellen sich vier Fragen bezüglich Normativität, die vier verschiedene Probleme betreffen:
(1) Wie können wir Normativität begründen? (Begründungsproblem)
Moralische Normativität (z.B. moralische Gebote) kann dadurch begründet werden, dass sie Anspruch auf Rationalität, Universalität und Autonomie erhebt.
(A) Rationalitätsanspruch: Das, was vernünftig ist, sollte auch getan werden. Rationalität besitzt eine spezifische Form von Gesetzlichkeit, sei es instrumentell oder moralisch.
(B) Universalitätsanspruch: Das, was von universellem Interesse ist, sollte auch getan werden. Moralische Normativität darf keine Ausnahmen zulassen, sondern muss für alle gelten (vgl. das Geltungsproblem).
(C) Autonomieanspruch: Das, was unsere Autonomie vergrößert oder ausdrückt, sollte auch getan werden. Ein Beispiel ist hier Rousseaus Begriff des Gemeinwillens und Kants Formulierung des kategorischen Imperativs: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ bzw. „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ Im Autonomieanspruch zeigt sich der Rationalitäts- und der Universalitätsanspruch.
(2) Für wen gilt Normativität? (Geltungsproblem)
Hier gibt es mehrere Möglichkeiten: Eine bestimmte (z.B. moralische) Normativität gilt (i) für alle Menschen, (ii) für alle (vernünftigen und autonomen) Personen, (iii) für nichtmenschliche Tiere? Damit moralische Normativität für ein Wesen gelten kann, muss es (a) diese erkennen und (b) nach ihr handeln können. Normative Geltung scheint Freiheit und Autonomie vorauszusetzen (kleine Kinder sind noch nicht deliktsfähig), und Normativität kann nur dann verbindlich und objektiv gelten, wenn sie die unter ihr stehenden Subjekte nicht prinzipiell überfordert. Dies drückt der lateinische Grundsatz „Ultra posse nemo obligatur“ aus (dt.: „Niemand wird über das Können hinaus verpflichtet“).
(3) Wie können wir Normativität erkennen? (Erkenntnisproblem)
Moralische Normativität (z.B. moralische Gebote) kann dadurch erkannt werden, dass man ihr Gegenteil als (A) vernunftwidrig bzw. logisch widersprüchlich, (B) nicht universalisierbar und (C) als nicht autonomiefördernd erweist. Als Beispiel kann hier der Maximentest bei Kant gelten. Nehmen wir an, ich habe mir folgende (unmoralische) Maxime zu eigen gemacht, „mein Vermögen durch alle sichere Mittel zu vergrößern.“ Ich habe mir von einer Person einen Gegenstand (ein sogenanntes „Depositum“) geliehen, den ich versprochen habe, dieser Person wieder zurückzugeben. Nun tritt folgender Fall ein: „Jetzt ist ein Depositum in meinen Händen, dessen Eigentümer verstorben ist und keine Handschrift darüber zurückgelassen hat.“ Der kategorische Imperativ gebietet die Verallgemeinerbarkeit meiner Maxime: „Ich wende jene [Maxime] also auf gegenwärtigen Fall an und frage, ob sie wohl die Form eines Gesetzes annehmen, mithin ich wohl durch meine Maxime zugleich ein solches Gesetz geben könnte: daß jedermann ein Depositum ableugnen dürfe, dessen Niederlegung ihm niemand beweisen kann.“ Durch den Verallgemeinerungstest kann ich erkennen, dass meine Maxime unmoralisch bzw. unvernünftig ist: „Ich werde sofort gewahr, daß ein solches Princip, als Gesetz, sich selbst vernichten würde, weil es machen würde, daß es gar kein Depositum gäbe.“ Damit will Kant sagen, dass durch eine solche Maxime, die zum normativen Gebot erhoben würde, der begriffliche Unterschied zwischen Besitz und Eigentum aufgehoben würde. Denn ich kann etwas besitzen (z.B. einen geliehenen Gegenstand oder eine Mietwohnung), ohne der Eigentümer zu sein. Außerdem würde sich die Maxime dadurch widersprechen, dass sie zugleich ein Versprechen und dessen Nichteinhaltung beinhaltet, was auf einen Widerspruch hinausläuft.
(4) Wie existiert Normativität? (Existenzproblem)
Was ist es eigentlich, von dem wir sagen, dass es (normative) Geltung beansprucht oder sich durch ein Sollen ausdrückt? Hier kommen verbindliche Gesetze und Gebote infrage, die sich wiederum durch Aufforderungssätze, konkreter: durch Imperative zeigen. Imperative haben wie Fragsätze keinen propositionalen Gehalt. Sie beschreiben keinen bestimmten Zustand oder eine Tatsache, sondern fordern, dass ein bestimmter Zustand erst zur Tatsache wird. Die Geltung solcher Imperative kann wiederum durch Rationalität, Universalität (bzw. Gemeinschaft) oder Autonomie begründet werden.