In der aktuellen philosophischen Diskussion werden die Auswirkungen der Digitalisierung immer mehr als genuine Forschungs- und Problemfelder entdeckt. So insbesondere auch in der Ethik. Die „digitale Ethik“ versteht sich als eine Form von angewandter Ethik, wie etwa die Tierethik, die Umwelt- und die Technikethik sie sind. Nun ist jedoch die Digitalisierung immer weniger als ein bloßer Teilbereich unserer Lebenswelt sichtbar, sondern durchdringt diese immer mehr. Die Digitalisierung betrifft unsere Lebenswelt nicht partiell, sondern grundlegend. Dies hat die Digitalisierung technologisch mit der Elektrifizierung gemein. Auch diese hat seit ihrer Einführung vor ca. 140 Jahren vor keinem Lebensbereich haltgemacht, sondern unsere Lebenswelt grundsätzlich verändert und revolutioniert. Im Gegensatz zur Elektrifizierung geht jedoch die Digitalisierung noch weiter, auch und gerade weil sie diese voraussetzt und auf ihr emergiert. Sie erlaubt es uns, herkömmliche Praktiken nicht nur zu verbessern (wie etwa der Übergang vom natürlichen Kerzenlicht zur elektrischen Glühbirne), sondern auch auf ganz neue Weise zu realisieren und von räumlichen und zeitlichen Beschränkungen unabhängig zu machen, d.h. zu virtualisieren. Ein Beispiel dafür stellt etwa die Internet-Enzyklopädie „Wikipedia“ dar, die, im Gegensatz zu einem Brockhaus, keine räumliche Ausdehnung mehr hat, dafür aber ständig aktuell gehalten und mit verschiedenen anderen Informationen reibungslos vernetzt werden kann. Auch unser Denken wird dank der Digitalisierung durch künstliche Intelligenz auf eine Weise rekonstruiert, die zu erstaunlichen Ergebnissen geführt hat. Aufgrund dieser grundsätzlichen Bedeutung der Digitalisierung, die über die technologische Elektrifizierung weit hinaus geht, scheint es nicht mehr angemessen zu sein, eine bloße „Ethik der Digitalisierung“ oder „digitale Ethik“ im Sinne einer technikphilosophischen Bereichsethik zu entwerfen. Die Digitalisierung verhält sich zu unserer alltäglichen Lebenswelt nicht wie etwas, was sich als eigener Bereich klar abgrenzen ließe, sondern sie transformiert und modifiziert sie grundlegend. Um diese transformative Bedeutung der Digitalisierung zu kennzeichnen, empfiehlt es sich, statt von einer „Ethik der Digitalisierung“ von einer „Ethik der Digitalität“ zu sprechen. Digitalität bedeutet im Gegensatz zur Digitalisierung nicht ein rein technologisches oder technokratisches Phänomen, was wenige Expertinnen und Experten angeht und ihnen vorbehalten ist, sondern eine kulturelle Realität, welche uns alle konkret im Alltag betrifft und uns neue Möglichkeiten eröffnet, uns aber auch vor neue Probleme stellt. Durch ihre transformative Kraft, die alle Lebensbereiche betrifft, verliert die Digitalisierung ihren rein technologischen Charakter und wird zur lebensweltlichen Digitalität. Aus der „Ethik“ der Digitalisierung wird das „Ethos“, also der lebensweltlich-kulturelle und kreative Umgang im Sinne der Digitalisierung. Der Oxforder Philosoph Luciano Floridi hat die Digitalisierung aus dem Gesichtspunkt der Information in den Blick genommen und ethisch zu fassen versucht. Er setzt der Ethik der Digitalisierung eine „Ethik der Information“ entgegen, die unsere „Infosphäre“ im Sinne der Summe aller – analogen und digitalen – Informationen betrifft. Floridi geht sogar so weit, Existenz im Sinne von Information zu reformulieren. Floridis Informationsbegriff hat gegenüber dem Begriff des Digitalen den Vorteil, dass er nicht rein technologisch konzipiert, sondern semantisch und propositional strukturiert ist. Eine Information enthält immer eine Aussage und eine Bedeutung, die uns betrifft und uns aus einer bestimmten Perspektive interessiert. Über seinen Informationsbegriff gelingt es Floridi, die Entwicklung der Digitalisierung an unsere Lebenswelt rückzubinden und mit unserer analogen Existenz in eine Verbindung zu bringen. Die Digitalisierung erweitert demnach den Raum der Information – die Infosphäre –, stellt aber keine Neben- oder Parallelwelt dazu dar. Allerdings sind Floridis informationstheoretischer Ethik auch grenzen gesetzt. Denn sie übersieht, dass wir im digitalen Raum durch die Digitalisierung auch Handlungen vollziehen, die nicht ohne Bedeutungsverlust im Sinne von bloßer Information verstanden werden können. Zwar ist eine digitale Handlung (was auch immer dies genau ist), immer auch als Information zu verstehen. Doch ist sie dadurch von einer Information unterschieden, dass sie eine Intention verfolgt und sich vollzieht – was bei Informationen nicht der Fall ist. Wenn wir die Digitalisierung in diesem Sinne als ein lebensweltliches Phänomen verstehen, welches uns herkömmliche Handlungen und Phänomene virtualisieren lässt, dann stellen sich u.a. folgende Fragen besonders dringlich:
- Inwiefern können wir das Internet als einen virtuellen Handlungsraum (als „Metaversum“) bestimmen, und welche Regeln sollen darin gelten?
- Inwiefern sollten wir dann ein Grundrecht auf Internetzugang haben?
- Was sind virtuelle Handlungen?
- Inwiefern sind Computerspiele mehr als nur Simulationen, und inwiefern können sie ethisch problematisch sein?
- Worin besteht unsere „digitale Identität“ und „digitale Würde“, und inwiefern sollen und können wir sie schützen?
- Worin besteht das „digitale Gute“, worin das „digitale Böse“?
- Inwiefern benötigen wir eine „digitale Aufklärung“, und wie ist sie verfasst?
Diesen Fragen soll im Rahmen des Seminars weiter nachgegangen werden.