Stellen wir uns folgende zwei Ereignisse vor:
(1) Ein flüchtender Dieb wird zufälligerweise von einem um die Ecke biegenden Hund zu Fall gebracht. Die nacheilende Polizistin kann daraufhin den Dieb verhaften und das Diebesgut an die bestohlene Person zurückgeben.
(2) Einem flüchtenden Dieb wird von einem engagierten Passanten absichtlich das Bein gestellt. Die nacheilende Polizistin kann daraufhin den Dieb verhaften und das Diebesgut an die bestohlene Person zurückgeben.
In beiden Fällen sind der Hund und der Passant kausal für das Ereignis der Verhaftung des Diebes und die Rückgabe der Beute an ihren Eigentümer verantwortlich. Beide Ereignisse (das Zufall-Bringen des Diebes und die damit verbundene Rückgabe des Eigentums) lassen sich auf dieselbe Weise im Sinne einer Wirkursache beschreiben: Das kausale Einwirken eines Hindernisses auf die Beine des Diebes verursachte dessen Fall. Im Gegensatz zu dem um die Ecke biegenden Hund ist der Passant jedoch nicht nur in dieser Weise kausal für das Zufall-Bringen und die Verhaftung des Diebes verantwortlich, sondern auch in moralischer Hinsicht: Seine Handlung wird ihm so zugerechnet, dass sie moralisches Lob verdient. Dem Passanten wird unterstellt, er habe moralische Gründe für sein Verhalten gehabt, die sich intentional und ursächlich in einer mutigen Handlung niederschlugen: Er brachte den Dieb zu Fall, weil er dessen Vergehen für unmoralisch hielt und dementsprechend einen engagierten Entschluss fasste. Der Passant, so die Unterstellung, habe sich frei aus moralischen Erwägungen heraus willentlich dafür entschieden, den Dieb aufzuhalten. Die Handlung des Passanten ist also gegenüber der bloßen Verursachung des Hundes noch zusätzlich bestimmt – sie ist, mit anderen Worten, kausal überdeterminiert. Wie aber ist diese für die Handlung des Passanten charakteristische zusätzliche Art von Kausalität zu verstehen? Oder allgemeiner gefragt: Worin besteht der Unterschied zwischen handlungsleitenden Gründen und bloßen Ursachen?
Eine der großen Herausforderungen für Kants Kritik der reinen Vernunft besteht darin, den Denkraum einer solchen Überdetermination im Falle von moralischer Zurechenbarkeit weiter auszuloten und individueller Freiheit angesichts der vollständigen kausalen Determination der Welt einen Raum einen Raum der Gründe zu eröffnen. Die Herausforderung besteht für Kant genauer darin, zu zeigen, wie ein und dasselbe Ereignis (wie etwa eine spontan und frei vollzogene und daher moralisch qualifizierbare Handlung) sowohl durch Naturkausalität wissenschaftlich erklärbar, als auch durch eine spezielle Art von mentaler Verursachung – durch Gründe – verständlich ist, so dass Mentales nicht auf Naturgesetzlichkeit allein reduziert wird. Kant möchte, anders gesagt, zeigen, dass moralische Überdetermination angesichts der vollständigen Bestimmung der Ereignisse der Welt (und damit auch der menschlichen Handlungen) durch die Naturgesetzlichkeit zumindest denkmöglich, d.h. nicht widersprüchlich ist. Die Herausforderung besteht für Kant also ganz allgemein darin, die Objektivität der Naturwissenschaften sicherzustellen und zugleich die Möglichkeit menschlicher Freiheit denkbar zu machen, d.h. zu zeigen, „daß Natur der Kausalität aus Freiheit wenigstens nicht widerstreite“. Dadurch möchte Kant der ontologischen Anforderung an die Freiheit – im Sinne absoluter Urheberschaft und alternativer Möglichkeiten – sowie der rationalen Anforderung im Sinne der Verständlichkeit der Freiheitsentscheidung – gerecht werden.
Kant bezeichnet eine solche Art mentaler Kausalität zusätzlich zur Naturkausalität der bloßen Wirkursachen als Freiheitskausalität bzw. als „absolute Spontaneität der Ursachen“, oder auch als „transzendentale Freiheit“. Ein freiheitskausales Ereignis unterscheidet sich also dadurch von einem naturkausalen, dass es nicht selbst wiederum die Wirkung einer vorausgehenden Ursache ist. In diesem Fall nämlich könnte die eigentliche Ursache immer weiter zurück delegiert werden, so dass die kausale Einheit des zurechenbaren Subjekts zerstört würde – die Gründe vor seiner Entscheidung lägen vor seiner Geburt, könnten ihm also nicht mehr zugerechnet werden. Beide Arten von Kausalität – Freiheits- und Naturkausalität – müssen nach Kant deshalb „als notwendig vereinigt in demselben Subjekt gedacht werden“ können: „[W]ie kann“, fragt Kant, „derjenige in demselben Zeitpunkte in Absicht auf dieselbe Handlung ganz frei heißen, in welchem, und in derselben Absicht, er doch unter einer unvermeidlichen Naturnotwendigkeit steht?“
Die transzendentale Idee der Freiheit im Sinne einer „absolute[n] Spontaneität der Handlungen“, die „den eigentlichen Grund der Imputabilität“ des Menschen ausmacht, ist, wie Kant betont, „der eigentliche Stein des Anstoßes für die Philosophie“.[1] Ihre Anstößigkeit lässt sich als eine Antinomie zwischen zwei grundsätzlichen Auffassungen bezüglich der kausalen Verfasstheit der Welt verstehen, die nach Kant auf Basis eines transzendentalen Realismus gleichermaßen bewiesen werden können und daher notwendig zu einer Kritik der jeweiligen ontologischen Verpflichtungen führen müssen.[2]
Wie ist nun der Streit der Vernunft um die Idee der absoluten Freiheit verfasst? Auf der einen Seite steht die Thesis, wonach „[d]ie Kausalität nach Gesetzen der Natur […] nicht die einzige [sei], aus welcher die Erscheinungen der Welt insgesamt abgeleitet werden können“, also „noch eine Kausalität durch Freiheit zu Erklärung derselben anzunehmen notwendig“ sei.[3] Auf der anderen Seite steht die Antithesis, wonach „alles in der Welt […] lediglich nach Gesetzen der Natur“ geschehe und somit „keine Freiheit“ im kosmologischen und transzendentalen Verstande möglich sei.[4] Die Ausgangslage der kosmologischen Vernunftideen besteht darin, dass der Vertreter der Thesis die Position eines „Dogmatism der reinen Vernunft“ einnimmt, während derjenige der Antithesis „ein Principium des reinen Empirismus“ zugrunde legt.[5] Zwischen beiden Thesen besteht allerdings eine Asymmetrie: Das „architektonische Interesse der Vernunft“, welches nach Kant immer „reine Vernunfteinheit fordert“, enthält „eine natürliche Empfehlung für die Behauptung der Thesis“.[6] Die Thesis ist gegenüber der Antithesis genauer durch ein „gewisses praktisches Interesse“ ausgezeichnet, indem die Überzeugung gerechtfertigt werden soll, dass der Mensch „in seinen willkürlichen Handlungen frei und über den Naturzwang erhoben sei“.[7] Damit weist die Verfasstheit der dieser Antinomie bereits über den Bereich des rein Theoretischen hinaus.
Kant bestimmt die kosmologische Dimension der Idee der Freiheit am Begriff der Kausalität weiter. Man kann sich nach Kant „nur zweierlei Kausalität in Ansehung dessen, was geschieht, denken [Hervorh. J.N.]“[8]. Ereignisse können gemäß dieser vollständigen Disjunktion „entweder nach der Natur, oder aus Freiheit“[9] hervorgegangen sein. Während die Kausalität der Natur „die Verknüpfung eines Zustandes mit einem vorigen in der Sinnenwelt“ bedeutet und als „Kausalität der Erscheinungen auf Zeitbedingungen beruht“,[10] versteht Kant unter Kausalität aus Freiheit im negativen Sinne die „Unabhängigkeit von allem Empirischen und also von der Natur überhaupt“[11]. Im positiven Sinne versteht Kant darunter die „Freiheit, im kosmologischen Verstande“, d.h. „das Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen, deren Kausalität also nicht nach dem Naturgesetze wiederum unter einer anderen Ursache steht, welche sie der Zeit nach bestimmte“.[12]
Welche Argumente lassen sich für die Thesis anführen? Wenn es nur Naturkausalität gäbe, so der Argumentationsgang des Vertreters der These, dann könnte auf diese Weise niemals eine „Vollständigkeit der Reihe auf der Seite der von einander abstammenden Ursachen“ bzw. eine „hinreichend a priori bestimmte Ursache“ zu einem beliebigen Ereignis angegeben werden,[13] weil jedes vorhergehende Ereignis wiederum eine Ursache hätte usw. ad infinitum. Es gäbe so gesehen „nur einen subalternen, niemals aber einen ersten Anfang“[14]. Durch diese Unvollständigkeit innerhalb der Reihe der Ursachen ist aber gerade das „Gesetz der Natur“ verletzt, wonach „ohne hinreichend a priori bestimmte Ursache nichts geschehe“.[15] Damit jedoch ein Ereignis hinreichend bestimmt werden kann und „die Reihenfolge der Erscheinungen auf der Seite der Ursachen“ vollständig ist, müsste demnach „eine Kausalität angenommen werden, durch welche etwas geschieht, ohne daß die Ursache davon noch weiter durch eine andere vorhergehende Ursache nach notwendigen Gesetzen bestimmt sei“; es müsste also eine „absolute Spontaneität der Ursachen“ bzw. „transzendentale Freiheit“ angenommen werden, welche ohne vorhergehende Ursachen ein Ereignis hervorbringt.[16] Die Pointe der Argumentation der These besteht also nicht vorrangig im Aufzeigen der Notwendigkeit von Freiheitskausalität gleich einem „ersten Beweger“[17] für freie Handlungen, sondern der Notwendigkeit einer kausalen Einheit der Natur selbst, welche durch den Begriff der Naturkausalität selbst nicht geleistet werden kann. Die hierbei zugrunde gelegte Argumentationsstrategie ist also die einer immanenten Kritik, die auf Basis der Prämissen der Gegenthese einen Widerspruch aufzeigt und die Form apagogischen Beweises annimmt
Der Argumentationsgang für die Antithese verläuft auf analoge Weise immanent und apagogisch: Wenn es so etwas wie Freiheitskausalität – also eine „besondere Art von Kausalität“, also „Freiheit im transzendentalen Verstande“[18] – gäbe, dann würden wir in der Zeit und in der Natur einen spontanen Kausalanfang annehmen müssen. Dies würde jedoch eine ‚Lücke‘ in der Erfahrung mit sich bringen und damit ein Moment der Gesetzlosigkeit, gleich einer nicht stetigen und differenzierbaren mathematische Funktion, deren Graph eine ‚Lücke‘ bzw. einen Knick aufweist. Ein solches Ereignis einer Freiheitskausalität würde im Kontext der zusammenhängenden Naturursachen wie ein Wunder erscheinen müssen, insofern es „zwar auf jene folgt, aber daraus nicht erfolgt“[19]. Freiheit könnte so nur im Sinne eines „gesetzlosen Vermögens“[20] gedacht werden.
Wie im Falle der These besteht auch die Pointe des Antithetikers darin, den Thetiker auf seinem eigenen Feld zu schlagen: Absolute Freiheit stellt sich als eigentlich Unfreiheit heraus: „Die Freiheit (Unabhängigkeit) von den Gesetzen der Natur ist zwar eine Befreiung vom Zwange, aber auch vom Leitfaden aller Regeln“, sie ist völlig willkürlich: „Natur also und transzendentale Freiheit unterscheiden sich wie Gesetzmäßigkeit und Gesetzlosigkeit“.[21] Transzendentale Freiheit wäre so nur „das Blendwerk von Freiheit“, eine Freiheit, die „selbst blind ist“.[22] Freiheit, so die Einsicht des Antithetikers, darf also gerade nicht in gänzlicher Gesetzlosigkeit bestehen, sondern erfordert eine spezifische Gesetzmäßigkeit. Da diese jedoch auf derselben Ebene wie der Naturkausalität nicht widerspruchsfrei denkbar ist – da, wenn die Kausalität der Freiheit „nach Gesetzen bestimmt wäre, sie nicht Freiheit, sondern selbst nichts anders als Natur“ wäre –, „so würde dieses Vermögen doch wenigstens nur außerhalb der Welt sein müssen“[23], was allerdings den theoretischen Rahmen eines transzendentalen Realismus sprengen würde.
Angesichts der Tatsache, dass auf Basis eines transzendentalen Realismus sowohl die These als auch die Antithese bewiesen werden können, stellt sich für den philosophischen Betrachter dieses Streits – d.h. für die Vernunft im weiten Sinne – die kompatibilistische Frage, „ob es ein richtigdisjunktiver Satz sei, daß eine jede Wirkung in der Welt entweder aus Natur, oder aus Freiheit entspringen müsse, oder ob nicht vielmehr beides in verschiedener Beziehung bei einer und derselben Begebenheit zugleich stattfinden könne [Hervorh. J.N.]“, sie also „mit der Allgemeinheit des Naturgesetzes der Kausalität zusammen bestehen könne“.[24] Es stellt sich mithin die Frage, „ob, wenn man in der ganzen Reihe aller Begebenheiten lauter Naturnotwendigkeit anerkennt, es doch möglich sei, eben dieselbe, die einer Seits bloße Naturwirkung ist, doch anderer Seits als Wirkung aus Freiheit anzusehen“[25].
[2] Vgl. Kants pädagogische Absicht rückblickend in den Prolegomena: „Wenn der Leser nun durch diese seltsame Erscheinung [der Antinomie; J.N.] dahin gebracht wird, zu der Prüfung der dabei zum Grunde liegenden Voraussetzung zurückzugehen, so wird er sich gezwungen fühlen, die erste Grundlage aller Erkenntniß der reinen Vernunft mit mir tiefer zu untersuchen.“ (Kant, Prol., AA IV, 341 Fn.)
[16] Kant, KrV, B 474. Kant bezeichnet eine solche Kausalität auch als „caußalitas originaria“ (Vorarbeiten MdS, AA XXIII, 383.