Eine philosophische Analyse der Formen des Unmoralischen setzt voraus, dass diese eine innere Struktur besitzen, die sich phänomenologisch oder gar begrifflich-rationalitätstheoretisch weiter ausdeuten lässt. Fassen wir Immoralität als bloßen Mangel und Defekt auf, so scheint uns eine tiefere Analyse verschlossen zu sein. Die Gründe für unmoralische Handlungen zu analysieren bedeutet freilich nicht, sie gut zu heißen, sondern nur, sie als einen zurechenbaren Akt der menschlichen Freiheit auszuweisen.
Uns stehen bei der Analyse der Formen des Unmoralischen verschiedene Kategorien zur Verfügung. Wir können zwischen Handlungen, Einstellungen, Haltungen und Gefühlen unterscheiden. Inwiefern ein Phänomen eindeutig in die ein oder andere Kategorie fällt, ist strittig. Der Neid etwa scheint sowohl eine innere Haltung wie auch ein Gefühl zu sein. Entscheidend ist jedoch, dass ein und dieselbe Handlung – wie etwa Mord – aus ganz unterschiedlichen Motiven erfolgen kann. Man könnte insofern die Handlung als eine Funktion ihrer Motive bezeichnen (Mord aus Eifersucht, Mord aus Neid, Mord aus Hass, Mord aus Neid, Mord aus Neid und Hass, …).
Jede Analyse des Unmoralischen muss die Relation von Täter und Opfer mit einbeziehen. Es kann sich dabei um Einzeltäter- und Einzelopfer, aber auch um Gruppentäter und Gruppenopfer handeln. Gerade kollektive Handlungen sind philosophisch sehr schwer zu analysieren, da sie Gruppen als ein Subjekt auffasst, und dabei ggf. interne Gruppendynamiken aus dem Blick verliert, die im individuellen Subjekt keine Entsprechung haben. Manche Formen des Unmoralischen sind dadurch ausgezeichnet, dass sie sich als solche gar nicht zu erkennen geben. Der Neid etwa – der sich als Einstellung und als Gefühl beschreiben lässt – besteht im Unvermögen, den Wert oder Vorzug einer andere Person anzuerkennen. Es handelt sich dabei also um eine spezielle Form von Missachtung. Doch präsentiert sich diese Missachtung als gerechtfertigte Reaktion auf eine selbst erlittene Ungerechtigkeit. Demjenigen, der offen zugibt, neidisch zu sein, wird deshalb nicht selten mit Sympathie begegnet, weil sein offener Neid als ein Zeichen der Anerkennung verstanden werden kann. Dies zeigt sich etwa an der höflichen Floskel „Ich beneide Sie!“
Jede Form des Unmoralischen existiert nicht für sich, sondern steht in einem Beziehungsgeflecht zu anderen, verwandten Formen. Häufig handelt es sich um unmoralische Situationen, die nicht durch eine einzelne Handlung angemessen beschrieben sind. Vielmehr ist Immoralität häufig ausgedehnt über mehrere Handlungen hinweg, so dass sie einen Raum der Immoralität eröffnet. Dies zeigt sich besonders im Falle des Mobbings. Beim Mobbing handelt es sich um eine komplexe unmoralische Gruppendynamik, die sich über einen längeren Zeitraum erstreckt und zumeist auf einen eng umrissenen Raum (z.B. Schule oder Arbeitsplatz) konzentriert ist. Häufig besitzt das Mobbing eine Eskalationsstruktur. Es beginnt im Kleinen, fast Unmerklichen und steigert sich dann immer mehr bis hin zur direkten Gewalt. Aber auch das Mobbing hat die Tendenz, sich selbst zu tarnen, und nur durch Andeutungen und Tuscheleien „hinter dem Rücken“ des Opfers bemerkbar zu werden. Es ist gerade die Anonymität, die das Mobbing auszeichnet. Mobbing entsteht häufig aus Neid und Konkurrenzkampf. Häufig sind es neu hinzustoßende Personen, deren Präsenz als Störung einer bestehenden Gruppe empfunden werden. In diesem Fall kommt es zu Ausschluss-Strategien, die eng mit dem Phänomen der Diskriminierung verwandt sind.
Diskriminierung bedeutet zunächst nur so viel wie „Unterscheidung“ und „Bezeichnung“. So verstanden ist Diskriminierung unproblematisch. Problematisch wird Diskriminierung jedoch dann, wenn einer Person oder einer Gruppe aufgrund von bestimmten, moralisch-neutralen Eigenschaften oder Zeichen bestimmte Nachteile erwachsen, die in keiner kausalen Relation zu ihnen stehen oder die ungerechtfertigterweise (etwa aufgrund von Vorurteilen) als Bedeutungen dieser Zeichen unterstellt werden. Diskriminierung im unmoralischen Sinne bedeutet also eine unzulässige Zeichen-Interpretation einer Person. Nicht selten werden bestimmte Eigenschaften, die eigentlich für die Person unwesentlich bzw. akzidentell sind, zum alleinigen Bezugspunkt ihrer Betrachtung. In diesem Fall wird die Person missachtet, da sie nicht mehr in ihrer Gänze wahrgenommen wird. Anlass für Diskriminierung können ganz unterschiedliche Eigenschaften sein, die eine Person als gruppenzugehörig, aber auch als Individuum betreffen: Geschlecht, Religion, politische Überzeugung, sexuelle Orientierung, Hautfarbe, Alter, Dialekt, Aussehen, usw. Wird eine Person aufgrund dieser äußerlichen Zeichen, die nicht ihren Wert betreffen, diskriminiert, so wird sie stigmatisiert. Gerade in positivistischen Kontexten, deren Ideal die wissenschaftliche Objektivierung ist, kommt es nicht selten zu solchen Stigmatisierungen. Der italienische Psychiater und Kriminologe Cesare Lombroso (1835–1909) unternahm etwa den Versuch, eine spezifische ‚Natur‘ von Kriminaltätern zu identifizieren, die sich durch bestimmte Zeichen ausdrückt. Lombrosos eigentliches kriminologisches Interesse galt der angeblich pathologischen Anatomie von „Verbrecherschädeln“. In diesem Zusammenhang verglich er das Gehirnvolumen von über 300 Mördern mit demjenigen von „Dieben“, „Gesunden“, „Irren“ und „Epileptikern“, und gelangte zu dem Ergebnis, dass die Schädelkapazität von Verbrechern verglichen mit jener von Angehörigen der Normalbevölkerung signifikant geringer sei, wobei besonders Diebe ein kleineres Gehirnvolumen aufwiesen. Noch größere Beachtung schenkte er aber den besonderen Schädelanomalien seiner Untersuchungsobjekte. Die wichtigsten physiognomischen Abweichungen betreffen nach Lombrosos Darstellung in abnehmender Reihenfolge das Hervorragen des Augenbrauenbogens und Stirnbeins, abnorm entwickelte Weisheitszähne, pathologische Schädel, fliehende Stirn sowie Asymmetrien und die Schiefheit des Gesichts. Neben der Typologie körperlicher und biologisch erfassbarer Anomalien findet sich in Lombrosos Werk auch eine Analyse kultureller Eigenarten der von ihm untersuchten Personengruppen, die auf ihre Zeichenhaftigkeit hin erschlossen werden sollen. Im Rahmen einer graphologischen Analyse untersuchte er etwa „Verbrecherhandschriften“. Dieser Analyse liegt die Annahme zugrunde, dass sich aus der Form der Handschrift Rückschlüsse auf den Charakter des Schreibers ziehen lassen, die Handschrift also Ausdruck und Zeichen der „Verbrechernatur“ sei. In den Handschriften von „Schwindlern“ und „Fälschern“ meint Lombroso „schwertähnliche“ und „dolchförmige“ Buchstaben zu erkennen, wobei sich die Schrift von „Schwindlern“ gerade durch ihren filigranen Strich auszeichne. In diesem Zusammenhang vermerkt Lombroso auch eine angeblich häufige Tendenz von Verbrechern, ihren Körper mit Tätowierungen zu versehen, womit sie sich gewissermaßen selbst stigmatisierten.