Um eine Ethik des Anthropozäns zu entwickeln, müssen wir auch auf das Verhältnis von Ethik und Ästhetik näher eingehen. Denn unter den Bedingungen des Anthropozäns verändert sich auch unsere Auffassung davon, wie die Natur ästhetisch verstanden werden kann. Der Frankfurter Philosoph Martin Seel hat in seinem 1997 erschienenen Aufsatz „Ästhetische und moralische Anerkennung der Natur“ versucht, die Natur „im individuellen und politischen Handeln“ zu berücksichtigen. Es geht ihm darum, ein „angemessene[s] Naturverhältnis“ zu entwickeln. Wir können die Natur nicht in diesem Sinne anerkennen, wie dies mit Personen der Fall ist, wenn wir ihnen etwa moralische Anerkennung zollen. Die Natur ist kein handelnder Akteur, sondern es gibt höchstens einzelne natürliche Lebensformen, die man in Betracht ziehen könnte (wie etwa Delfine oder Menschenaffen). Dann aber würde man nicht die ganze Natur anerkennen, sondern nur einen Teil von ihr. Dafür argumentiert Seel jedoch, dass wir die Natur ästhetisch anerkennen können: „Die Form dieser Anerkennung liegt in der Zuschreibung eines besonderen Werts der Natur innerhalb einer besonderen Art der menschlichen Begegnung mit ihr. In ästhetischer Einstellung können bestimmte Zustände von Natur um ihrer selbst willen geschätzt und gesucht werden. Eine nicht auf das höhere tierische Leben eingeschränkte Anerkennung der Natur ist nur im Rahmen einer solchen ästhetischen Einstellung möglich.“ Seels These lautet insofern: „Eine zugleich direkte und allgemeine Anerkennung der Natur ist nur als einseitige ästhetische Anerkennung (der Natur durch den Menschen) möglich. Umfassende moralische Anerkennung der Natur setzt eine umfassende ästhetische Anerkennung von Natur voraus.“ Anerkennung der Natur bedeutet insofern „Anerkennung eines nicht-instrumentellen Werts von Natur“. Insofern es sich dabei um keine moralische Anerkennung der Natur handelt, „gilt sie bestimmten Zuständen und Situationen von Natur, und zwar um der – allein für den Menschen erfahrbaren – Gegenwart dieser Situationen willen“. Nach Seel kann der Natur nur durch eine ästhetische Anerkennung ein „Eigenwert“ zugestanden werden, der jedoch nicht absolut gilt, sondern „allein innerhalb der ästhetischen Praxis des Menschen“. Insofern vertritt Seel ausdrücklich eine anthropozentrische Naturästhetik: „Ohne dieses anthropozentrische Element […] muß die Ethik des richtigen Umgangs mit der Natur ihr Thema verfehlen.“
Es stellt sich jedoch die Frage, ob wir unter den Bedingungen des Anthropozäns die Natur noch als ein von uns verschiedenes Objekt betrachten können, dem gegenüber wir eine anthropozentrische ästhetische Einstellung einnehmen können. Es scheint, dass Seels Naturästhetik die spezifischen Bedingungen des Anthropozäns nicht reflektiert. Denn im Anthropozän steht uns in der Natur kein fremdes Objekt gegenüber, das wir ästhetische anerkennen können. Vielmehr treten wir uns im Anthropozän als Menschen selbst entgegen, wenn auch nicht unmittelbar, sondern zumeist vermittelt und ästhetisch-dynamisch gebrochen. Es bietet sich insofern an, eine Ästhetik des Anthropozäns nicht im Rahmen einer Theorie des Naturschönen, sondern vielmehr im Sinne des dynamisch Erhabenen nach Kant zu entwickeln. In seiner Kritik der ästhetischen Urteilskraft hatte Kant das dynamisch Erhabene folgendermaßen bestimmt:
„Kühne, überhangende, gleichsam drohende Felsen, am Himmel sich aufthürmende Donnerwolken, mit Blitzen und Krachen einherziehend, Vulcane in ihrer ganzen zerstörenden Gewalt, Orkane mit ihrer zurückgelassenen Verwüstung, der gränzenlose Ocean, in Empörung gesetzt, ein hoher Wasserfall eines mächtigen Flusses u.d.gl. machen unser Vermögen zu widerstehen in Vergleichung mit ihrer Macht zur unbedeutenden Kleinigkeit. Aber ihr Anblick wird nur um desto anziehender, je furchtbarer er ist, wenn wir uns nur in Sicherheit befinden; und wir nennen diese Gegenstände gern erhaben, weil sie die Seelenstärke über ihr gewöhnliches Mittelmaß erhöhen und ein Vermögen zu widerstehen von ganz anderer Art in uns entdecken lassen, welches uns Muth macht, uns mit der scheinbaren Allgewalt der Natur messen zu können.“ (5:261)
Wir empfinden die Naturgewalt insofern als erhaben, als wir uns über sie moralisch erheben können, sofern wir uns davor „in Sicherheit befinden“. Diese Situation ändert sich nun aber unter den Bedingungen des Anthropozäns grundlegend. Denn zum einen befinden wir uns immer weniger vor den anthropogenen Umweltkatastrophen in Sicherheit. Zum andern können wir uns darüber nicht mehr moralisch erheben, denn wir müssen immer mehr erkennen, dass wir selbst als Menschen die Ursache dieser Naturgewalten sind. Es bietet sich insofern an, nicht mehr von einem dynamisch Erhabenen der Natur zu sprechen, sondern von einem anthropozänisch Erniedrigenden.