In der neueren Debatte um das Böse haben vor allem Susan Neiman und Bettina Stangneth wichtige Beiträge geleistet. Susan Neiman vertritt in ihrem Buch „Das Böse denken: Eine andere Geschichte der Philosophie“ die These, dass das Problem des Bösen „die treibende Kraft des modernen Denkens“ sei (25). Das Böse ist deswegen nicht nur für die Theologie, sondern auch für die Philosophie zentral, weil dabei darum geht „die Welt als ganze zu verstehen“ (32). Da es nicht nur einzelne Handlungen, sondern die Welt als ganzes betrifft, gehört es nach Neiman „weder zur Ethik noch zur Metaphysik“, sondern „bildet vielmehr das Band zwischen den beiden“ (32). Zentral an Neimans Betrachtung des Bösen ist die Verlagerung des Fokus von der Ursache-, Täter- und Motivperspektive auf die Wirkungs-, Opfer- oder Leidensperspektive. Neiman hält es für unmöglich „wesenhafte Eigenschaften des Bösen zu definieren“, und richtet ihren Blick daher auf die Frage, „was das Böse uns antut“ (35). Wenn wir etwas als böse bezeichnen, bringen wir damit nach Neiman zum Ausdruck, „daß es unser Vertrauen in die Welt erschüttert“ (35).
Neiman betrachtet dazu vor allem das Böse, wie es sich in neuerer Zeit durch Terroranschläge manifestiert hat. Sie sieht eine Besonderheit dieser Anschläge, wie etwa denjenigen des 11. Septembers, darin, dass dadurch die Unterscheidung zwischen moralischem und natürlichem Bösen aufgehoben werden soll: „Terroristische Attentate ahmen die willkürlichen Schläge der Natur nach“ und gehen „mit der bewußten Reproduktion der übelsten Seiten der Natur, wie etwa Seuchen, einher“ (419). Gerade die Anschläge des 11. September ähnelten einer Naturkatastrophe wie einem Vulkanausbruch, einem Meteoriteneinschlag oder einer gewaltigen Schnee-Lawine. Die Anschläge inszenierten sich als gewaltige Naturkatastrophe, und sie waren dabei durch und durch symbolisch aufgeladen. Sie fanden in New York, der liberalen westlichen Metropole, statt, die für verschiedene Filme den Rahmen für apokalyptische Fiktionen geboten hatte, und sie trafen die Zwillingstürme des World Trade Center, die als Inbegriff für die westliche Ökonomie gelten durfte. Terroranschläge verstehen sich jedoch nicht als böse Handlungen, sondern im Rahmen der jeweiligen radikalen Ideologie als gerechte Formen von Strafe, die Furcht und Angst erzeugen. Die Bilder des 11. September wurden durch die mediale Zentralität New Yorks in kürzester Zeit über die ganze Welt verbreitet und haben sich ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben.
Bettina Stangneth untersucht in ihrem Buch „Böses Denken“ die Frage, inwiefern das Denken selbst böse sein kann. Sie betont, dass Begriffe und Denken „keine harmlose Freizeitbeschäftigung“ sind, sondern durchaus als moralisch qualifizierbare Handlungen aufgefasst werden können: „Denken ist nicht wie Stolpern.“ Da auch das Denken böse sein kann, identifiziert Stangneth eine Form des „akademischen Bösen“. Stangneth kritisiert Formen der „Ästhetisierung von Denken und Denker“. Ein solcher ästhetischer Gebrauch des Denkens bewirkt nach Stangneth moralische Desorientierung. Wir sind für unsere Denkungsart selbst verantwortlich, denn aus dieser Denkungsart folgen konkrete Handlungen. Damit kritisiert Stangneth Hannah Arendts Auffassung, wonach Adolf Eichmann „gedankenlos“ gewesen sei: „Auch Mörder können denken, und einige von ihnen taten und tun es schneller, konsequenter und virtuoser, als wir es uns vorstellen konnten.“