Wie können wir angesichts der neuen Medien und fortschreitenden Digitalisierung so etwas wie eine digitale Aufklärung entwickeln? Was ist digitale Unmündigkeit, und worin besteht digitale Aufklärung und Mündigkeit als – nach Kant gesprochen – Ausgang aus unserer digitalen Unmündigkeit? Der deutsche Neurowissenschaftler und Psychiater Manfred Spitzer hat vor allem auf die Gefahren der Digitalisierung hingewiesen. Er spricht von „Digitaler Demenz“, von „Cyberkrankheit“ und „Smartphone Epidemie“. Seiner Auffassung nach wird unsere Gesundheit durch das digitalisierte Leben „ruiniert“. Auch Jürgen Habermas warnt in seinem Buch über den „Neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit“ vor den Gefahren der digitalen Kommunikationsstrukturen und Diskursen. Er spricht davon, dass in den neuen sozialen Medien wie Facebook und Twitter sich „eine Weise der halböffentlichen, fragmentierten und in sich kreisenden Kommunikation“ durchsetzt, die unsere „Wahrnehmung von politischer Öffentlichkeit“ „deformiert“. Er sieht deswegen den „deliberativen Modus der Meinungs- und Willensbildung gefährdet“. Die neuen Medien sind nach Habermas bloße „Unternehmen, die Imperativen der Kapitalverwertung gehorchen und an der Börse zu den höchst notierten Konzernen gehören. Ihre Gewinne verdanken sie der Verwertung von Daten, die sie zu Werbezwecken oder anderweitig als Waren veräußern“. Der US-amerikanische Autor und Aktivist Eli Pariser diese von Habermas als „in sich kreisenden Kommunikation“ bezeichnete Problematik treffend als „Filterblase“ („Filter Bubble“) charakterisiert. Sein gleichnamiges Buch trägt den auch den Untertitel „Wie wir im Internet entmündigt werden“. Eine Filterblase ist ein Wissens- und Kommunikationsraum, der im Internet durch Einsatz von kommerziell interessierten Algorithmen so gestaltet wird, dass er uns nur diejenigen Ergebnisse auf unsere Suchen und Explorationen ausgibt, an denen wir ohnehin schon interessiert sind, oder an denen wir wahrscheinlich interessiert sein könnten. Damit wird zwar die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass wir diesen Informationen folgen und kommerziell aktiv werden. Allerdings wird dadurch unsere Fähigkeit der kritischen Meinungsbildung eingeschränkt: „[D]iese [Prognose-]Maschinen ein ganz eigenes Informationsuniversum für jeden von uns […] und verändern so auf fundamentale Weise, wie wir an Ideen und Informationen gelangen“. Die Filterblase suggeriert informationelle Objektivität und Selbstbestimmung, manipuliert uns jedoch im Grunde. Wir befinden uns also in einer digitalen Form von selbstverschuldeten Unmündigkeit. Eine weitere Form von digitaler Unmündigkeit kann in dem Einsatz von Simulationstechnologien erblickt werden, die gegenwärtig unter der Bezeichnung „VR“ („virtual reality“) fungieren. Halten wir die digitale Simulation – sei es in immersiven Computerspielen oder sonstigen Medien – für die Wirklichkeit, so machen wir gerade keinen öffentlichen Gebrauch unserer Vernunft. Es handelt sich dann nur um einen Scheingebrauch oder Privatgebrauch unserer Vernunft. Worin besteht dann aber der Ausgang aus unserer digitalen Unmündigkeit? Wir müssen dazu einen öffentlichen Gebrauch von unserer Vernunft durch digitale Medien machen. Dieser kann etwa folgendermaßen aussehen: Wir verstehen das Internet nicht als ein bloßes Instrument oder (Konsum)Medium, sondern als einen virtuellen Handlungsraum. Wir dürfen unsere Handlungen im Internet nicht als bloße Simulationen, Illusionen oder Fiktionen verstehen, sondern Aktionen, für die wir Verantwortung tragen. Wir sollten Computerspiele nicht nur als Konsummedium und immersive Simulation einer Scheinwelt gebrauchen, sondern als Form der Wirklichkeitsreflexion. Wir verstehen die Digitalisierung nicht als uns beherrschende Technik, sondern als Ermöglichungsgrund von Freiheit im Sinne virtueller Realität. Wir verstehen das Internet nicht als privilegiertes Konsummedium, sondern als Grundbedürfnis nach Freiheit, auf welches alle Menschen ein Recht haben. Der Ausgang aus der digitalen Unmündigkeit kann so erfolgen, dass wir die Digitalisierung im Sinne der virtuellen Realität als Erweiterung unseres Handlungsraums und damit unserer Freiheit gebrauchen. Digitale Mündigkeit muss insofern von bloß technokratischer „Medienkompetenz“ unterschieden werden. Es geht nicht um den instrumentellen und kommerziellen Gebrauch der Digitalisierung, sondern um ihren öffentlichen Gebrauch. Die bloße Digitalisierung analoger Strukturen und Prozesse bedeutet noch keine digitale Mündigkeit, sie kann gerade ein Zeichen digitaler Unmündigkeit sein. Digitale Mündigkeit bedeutet, dass wir unsere individuelle und kollektive Autonomie durch die Digitalisierung vergrößern. Wikipedia als digitale Enzyklopädie lässt sich insofern als konkretes Phänomen der digitalen Aufklärung verstehen. Allerdings ergeben sich hier einige Änderungen gegenüber der gedruckten Enzyklopädie. Digitale Enzyklopädien folgen einer anderen Raum-, Zeit- und Wissenslogik als gedruckte Enzyklopädien. Durch die Digitalisierung können wir unmittelbar und reibungslos Hyperlinks folgen. Wir rezipieren nicht nur Artikel, sondern erarbeiten sie kollaborativ. Wir folgen nicht nur Verweisen, sondern vernetzen Einträge selbst. Wir vernetzen Artikel nicht nur innerhalb von Wikipedia, sondern auch mit äußeren Quellen und Inhalten. Die Genese des Wissens lässt sich durch diskursive „Versionsgeschichten“ erschließen. Digitalen Enzyklopädien liegt insofern eine andere Form von Partizipation zugrunde, die sich als öffentlicher Gebrauch der Vernunft interpretieren lässt.