Zusammen mit dem Phänomen der künstlichen Intelligenz und der Computerspiele darf das Phänomen des Internets als eines der wichtigsten Themen für die Frage nach einer Ethik der Digitalität gelten. Seine ethische Bewertung hängt vor allem davon ab, als was wir es verstehen. Wir können das Internet auf vier Arten verstehen:
(1) Konsum- und Informationsmedium: Verstehen wir das Internet als ein bloßes Konsummedium, welches wir informationell ‚anzapfen‘, dann stellt sich das ethische Problem, dass darin Inhalte zu finden sind, die illegal oder moralisch problematisch sein können (hier ist etwa an das „Darknet“ zu denken). Wir verhalten wir uns dabei als Subjekte passiv, oder zumindest in unserer Aktivität rezeptiv. Wir sind abhängig von demjenigen, was uns im Internet angeboten wird. Das Internet wird dabei als ein Objekt oder eine Menge von Informationsobjekten verstanden.
(2) Datenkrake: Verstehen wir das Internet als ein Medium, in welchem wir nicht nur passive Informationen abrufen, sondern in welchem wir dabei auch Spuren hinterlassen, und durch welches alle unsere Zugriffe registriert und verwertet werden, dann stellt sich das ethische Problem des Datenschutzes und unserer Privatsphäre. Hier verstehen wir uns als ein bloßes Objekt, und das Internet als ein Subjekt, welches uns kontrolliert bzw. registriert.
(3) Scheinwelt: Verstehen wir das Internet als eine bloße Scheinwelt, dann drohen wir uns darin zu verlieren und unseren Bezug zur Wirklichkeit zu verlieren. Das Internet wird dann zum Rückzugsort einer Weltflucht, zu einem Gefängnis unserer Illusion. Hier ist das Internet kein Informationsnetz, sondern ein Phantasiegespinst, das eine moralisch problematische Parallelwelt darstellt.
(4) Handlungsraum: Verstehen wir das Internet schließlich als einen virtuellen Handlungsraum, dann stellt sich das ethische Problem, welchen Regeln und Gesetzen unser Handeln dort unterliegen soll, und was überhaupt eine virtuelle Handlung ist. Hier sind wir selbst nicht nur Objekte des Internets, sondern hier gestalten wir dieses aktiv mit. Unsere virtuellen Handlungen sorgen dafür, ob der virtuelle Handlungsraum vergrößert oder verkleinert wird, ob neue Bereiche erschlossen und miteinander vernetzt werden, oder ob wir Tendenzen der Abkapselung und Abschottung verstärken, so dass sich Blasen bilden, in welchen fake news kursieren und Meinungen sich radikalisieren. Unsere Subjektivität interferiert dabei mit dem virtuellen Handlungsraum und ist davon nicht zu trennen.
Der Oxforder Internet-Ethiker Luciano Floridi versteht das Internet als Teil unserer „Infosphäre“, die durch alle analogen und digitalen Informationen konstituiert wird. So gelingt es Floridi, die analoge und digitale Welt nahtlos miteinander zu verbinden. In diesem Zusammenhang hat Floridi den Ausdruck „Onlife“ geprägt: „Die digitale Onlinewelt weitet sich in die analoge Offlinewelt hinein aus und verschmilzt mit ihr.“ Floridi versteht das Internet also im Sinne von (1) und (2).
Der kalifornische Philosoph Hubert Dreyfus (1929-2017) hat das Internet als Inbegriff der technologischen Innovation bestimmt. Es eröffnet nicht nur bestimmte neue Möglichkeiten, wie es technologische Innovationen tun. Vielmehr stellt das Internet eine Basis dar, auf der ganz verschiedene technologische Innovationen wiederum ermöglicht werden. Das Internet ist, so könnte man sagen, ein Katalysator virtueller Realität. Allerdings kritisiert Dreyfus das Internet auch. Zwar gesteht er dem Cyberspace „a remarkable new freedom never before available to human beings” zu. Doch verlieren wir dadurch auch viele unserer Fähigkeiten: “our ability to make sense of things so as to distinguish the relevant from the irrelevant, our sense of the seriousness of success and failure that is necessary for learning, and our need to get a maximum grip on the world that gives us our sense of the reality of things.” Wir verlieren, so befürchtet Dreyfus, dadurch am Ende sogar unseren Sinn für die Bedeutung unseres Lebens. Diese Gefahren sind sicherlich aus ethischer Sicht möglich, doch hängt ihre Bedeutung ganz entscheidend davon ab, als was wir das Internet verstehen. Dreyfus versteht das Internet weniger im Sinne von (1) und (2), sondern vielmehr im Sinne von (3).
Allerdings bedeutet das Internet, wenn wir es im Sinne von (4) als einen virtuellen Handlungsraum verstehen, keinen Wirklichkeitsverlust, sondern nur einen anderen Wirklichkeitsbezug. Die Wirklichkeit des Internets ist eine virtuelle Realität, die aber dadurch nicht weniger real ist als unsere physische Welt. Dies zeigen die neuen Entwicklungen des sogenannten „Metaversums“ – ein Ausdruck, der die Bezeichnung „Cyberspace“ immer mehr ablöst. Interessant ist dabei, dass diese neuen virtuellen Räume zunächst spielerisch erkundet und erprobt werden, um dann in einem nächsten Schritt weiter etabliert und auf verschiedene Lebensbereiche angewendet zu werden. Computerspiele wie „Horizon Worlds“ experimentieren mit Wirklichkeit und Möglichkeit, mit Fiktion und Simulation und erproben somit das Metaversum. Computerspielen bedeutet deswegen nicht so sehr eine Realitätsflucht, sondern vielmehr, Wirklichkeitsbezüge zu reflektieren und auszuloten. Durch diese Auslotung können dann in der Folge neue Wirklichkeiten entstehen. Dieses Austesten und Ausloten des virtuellen Raumes lässt sich auch als ein Bildungsprozess verstehen, welches das Subjekt im Verhältnis von Möglichkeit, Wirklichkeit, Simulation und Fiktion durchläuft.
Das Internet, insbesondere in der Form des Metaversums, tendiert dazu, in unsere gesamte Lebenswirklichkeit einzudringen. Hier stellt sich das ethische Problem, dass wir diese lebensweltliche Durchdringung nicht bedenkenlos kommerziellen Unternehmen unterlassen sollten. Denn auch wenn wir im Metaversum handelnde Subjekte sind, so werden wir doch am Ende zu bloßen Datenobjekten reduziert, die sich zu Geld machen lassen.
Die digitale Infrastruktur des Metaversums, auf der die virtuelle Infrastruktur emergiert, und welche verschiedene virtuelle Handlungsformen erlaubt, sollte deswegen nicht kommerziell zur Verfügung gestellt werden, sondern vielmehr von offiziellen staatlichen oder gar überstaatlichen Institutionen wie den Vereinten Nationen. Diese Infrastruktur müsste weiter im Sinne demokratischer Mitbestimmung und Transparenz verstanden werden.
Falls das Metaversum in diesem Sinne ein freier, nicht-kommerzieller Handlungsraum wird, das alle Lebensbereiche betrifft, so stellt sich die Frage, ob nicht allen Menschen ein Zugang dazu garantiert werden muss. Erst in diesem Sinne, im Sinne des Internets als (4) virtueller Handlungsraum, scheint ein Menschenrecht auf Internet begründet werden zu können. Denn ein fehlender Zugang zu diesem Handlungsraum würde eine Beschränkung unserer Freiheit bedeuten.