Der englische Naturwissenschaftler James Lovelock (1919-2022) hat in der Naturethischen Debatte den Begriff der „Gaia“ geprägt. Das Wort stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet so viel wie „Erde“. In der griechischen Mythologie handelt es sich bei Gaia um die personifizierte Erde. Lovelock nähert sich seiner Theorie oder genauer „Hypothese“ der Gaia über den Begriff des Lebens an. Lovelock hebt hervor, dass sich die Naturwissenschaften sehr schwer damit tun, den Begriff des Lebens eindeutig zu definieren und „den Sinn der lebendigen Existenz“ zu erfassen. Mit „Leben“ bezeichnen wir nicht nur Einzeldinge, sondern auch größere Komplexe und zusammenhängende Systeme, die die Ökologie betreffen. Wie aber verhält es sich mit dem „System aller Systeme“, also dem Planeten Erde? Lovelock bestimmt den Begriff Gaia als Vorstellung von „einem tatsächlichen lebenden Planeten […], auf dem sich alles Leben, die Luft, die Meere und die Felsen zu einem gemeinsamen Ganzen zusammenfügen“ und im Sinne von einem „eng verknüpften System von Leben und seiner Umgebung“. Gaia ist deswegen eine konsequent holistische Bestimmung des Lebens als „die umfassendste Erscheinungsform von Leben überhaupt“. Lovelock bestimmt Gaia jedoch nicht als Biosphäre oder als Summe aller Lebewesen, sondern als „Kontinuitätsbogen“, also als Prozess, „der sich von den Lebensanfängen in der Vergangenheit bis zum Ende von Leben in irgendeiner Zukunft spannt“, denn „Gaia ist kein statisches Bild“. Gaia ist ein holistischer Begriff, ein „gesamtplanetarisches Wesen“, dessen Eigenschaften „sich nicht notwendigerweise aus dem Wissen über einzelne Arten oder Populationen von zusammenlebenden Organismen erschließen“. Gaia bedeutet aber auch einen konstanten Zustand, in dem „die Temperatur, der Oxidationszustand, der Säuregehalt und bestimmte Aspekte von Gesteinen und Gewässern zu jeder Zeit konstant bleiben“ und so eine „Homöostase“ bilden, die sich „durch massive Rückkoppelungsprozesse erhält“. In Gaia sind also verschiedene Prozesse aufs Engste miteinander verbunden und aufeinander abgestimmt. Gaia bezeichnet also einen hochgradig holistischen Zustand: „Leben und seine Umgebung sind so eng miteinander verflochten, dass eine Evolution immer Gaia betrifft, nicht die Organismen oder deren Umgebung für sich genommen.“ Die Gaia-Theorie betrachtet demnach „die Erde und das Leben auf ihr als ein System“, in dem jedes Teil eine besondere Rolle für das Ganze spielt. Gaia ist durch Selbstregulierung charakterisiert, die eine Anpassung an verändernde Umstände zulässt. Lovelocks Theorie lässt sich als teleologisch und als ökozentrisch-holistisch charakterisieren, denn sie impliziert, dass Gaia das Ziel eines austarierten systematischen Gleichgewichts aus sich selbst heraus verfolgt. Zu Gaia zählen nicht nur verschiedene Arten von Lebewesen, sondern auch „[d]as Vorhandensein von zwingenden Voraussetzungen oder Beschränkungen, die die Grenzen von Leben bestimmen“. In Gaia verschmelzen „Lebewesen, Steine, Luft und Meere zu einem neuen Gebilde“. Problematisch ist an Lovelocks Hypothese die Personifizierung der Erde als einem teleologischen Lebewesen, das hinter den verschiedenen konkreten und individuellen Lebensprozessen durch seinen Gleichgewichtszustand steht. Denn dies würde bedeuten, dass Gaia eine Art von Absicht bzw. Intentionalität besitzt. Dagegen kann die These vertreten werden, dass es sich bei Gaia nur um einen kontingenten, relativ gesehen kurzzeitigen Gleichgewichtszustand handelt, der jederzeit wieder kollabieren kann. Die (umwelt-)ethische Konsequenz daraus jedenfalls wäre, dass wir diesen glücklichen Gleichgewichtszustand nicht noch zusätzlich stören sollen, da wir ihm unsere Existenz als Lebewesen verdanken.
Der französische Soziologe und Philosoph Bruno Latour (1947-2022) hat auf Lovelocks Begriff der Gaia aufgebaut und diesen für seine Theorie des Anthropozäns verwendet. Er versteht das Anthropozän als „Epoche der Geohistorie“, man könnte auch sagen, als Anthropogeologie oder Geoanthropologie. Nach Latour eignet sich der Begriff des Anthropozäns, um „zum relevantesten philosophischen, religiösen, anthropologischen und, wie noch zu sehen sein wird, politischen Konzept bei der Abkehr von Begriffen wie »MODERNE« und »Modernität«“ zu werden. Sehr zutreffend bestimmt Latour den Begriff des Anthropozäns als „Oxymoron aus Geologie und Menschheit“ (203). Latour bemerkt scharfsinnig, dass dieser Begriff des Anthropozäns in vielerlei Hinsicht ein kritischer Begriff ist. Zum einen ist seine Herkunft nicht geisteswissenschaftlich, sondern naturwissenschaftlich-empirisch oder gar „naturalistisch“. Als ein solcher hybrider Begriff übertrifft dieser selbst die anthropozentrischsten Thesen der Geisteswissenschaften: „Kein postmoderner Philosoph, Anthropologe, liberaler Theologe oder politischer Denker hätte es gewagt, den Einfluß des Menschen auf dieselbe Stufenleiter zu stellen wie den der Flüsse, Vulkane, der Erosion oder der Biochemie.“ Der Begriff des Anthropozäns lässt sich also auf ganz verschiedene Nicht-Naturwissenschaften bzw. Geistes- und Sozialwissenschaften übertragen: „Welcher Literaturwissenschaftler hätte die Grundsätze der Dekonstruktion von Texten auch auf die Ablagerungen ausgedehnt, die in allen Deltas des Planeten die unwiderlegbaren Spuren der durch den Menschen verursachten Erosion tragen?“ (203) Der Begriff des Anthropozäns durchkreuzt postmoderne Thesen vom „Ende des Menschen“, indem er dessen Omnipräsenz in der Natur, dem vermeintlichen Gegenstück zur Kultur, aufzeigt. Der Begriff des Anthropozäns markiert insofern „den radikalsten Schlußpunkt hinter den Anthropozentrismus“. Allerdings wendet sich Latour gegen die Auffassung, dass das Anthropozän eine „maßlose Erweiterung des Anthropozentrismus“ sei, „so als könnten wir uns brüsten, uns wirklich in einen fliegenden Superman in rotblauem Dreß verwandelt zu haben“. Das Anthropozän ist deswegen kein radikaler Anthropozentrismus, weil es ein in sich differenziertes und divergierendes Phänomen ist, welches keine einheitliche Form besitzt. Latour vergleicht diesen Zustand mit dem biblischen Zustand nach dem Einsturz des Turms zu Babel, nachdem alle Menschen zur Strafe in verschiedene Völker und Sprachen auf der Erde verstreut wurden. Ebenso ist der Mensch im Anthropozän nicht auf der Erde, sondern in der Erde zerstreut.