Die Digitalisierung betrifft zunehmend alle Bereiche unserer Lebenswelt. Wie die Elektrizität stellt sie nicht mehr nur eine Technologie dar, die bestimmte (Spezial-)Bereiche betrifft, sondern ist eine pervasive Technologie geworden, die in alle Bereiche unseres Lebens vordringt, anders etwa als die Gentechnik, die freilich auch ethisch von großer und zunehmender Bedeutung ist. Wäre die Digitalisierung nur eine Spezialtechnik, so würde es genügen, für sie eine Technik- oder Bereichsethik zu entwickeln, im Sinne angewandter Ethik bzw. im Sinne einer Ethik der digitalen Ethik, so wie etwa die Tierethik, die Bioethik oder die Wirtschaftsethik. Eine Ethik der Digitalität hingegen berücksichtigt, dass Digitalisierung mehr ist als nur Nullen und Einsen. Der Oxforder Informationsethiker Luciano Floridi schreibt, aus den neuen Medien seien „umweltgestaltende, anthropologische, soziale und interpretative Kräfte geworden. Sie schaffen und prägen unsere geistige und materielle Wirklichkeit, verändern unser Selbstverständnis, modifizieren, wie wir miteinander in Beziehung treten und uns auf uns selbst beziehen, und sie bringen unsere Weltdeutung auf einen neuen, besseren Stand, und all das tun sie ebenso tief greifend wie umfassend und unablässig.“ (Floridi 2015, 7) Wie ist aber genau diese „Kraft“ der Digitalisierung zu bestimmen? In ökonomischen Zusammenhängen wird oft von einer „transformativen“ und „disruptiven“ Kraft gesprochen, welche die Digitalisierung entfalte. Gemeint ist damit, dass sich herkömmliche Praktiken und Produkte mittels der Digitalisierung virtualisieren lassen. Virtuelle Realität ist also nicht gleichbedeutend mit bloßer Simulation oder Illusion, mit einer digitalen Scheinwelt, in welcher wir uns zu verlieren drohen. Vielmehr bezeichnet virtuelle Realität eine eigene Form von Realität, die ihre Bedeutung dadurch erlangt, dass sie sich auf kreative Weise von bestehenden raumzeitlich gebundenen Strukturen löst. Virtuelle Realität ist als Phänomen weitaus älter als die neuen Medien. Ein klassisches Beispiel dafür ist unser Geld. Eine Banknote etwa besitzt ihren Wert an sich, materiell betrachtet, nicht. Sie stellt vielmehr einen virtuellen Wert dar, der sich der intersubjektiven Gemeinschaft verdankt, die ihn garantiert. Wir können nun mittels der Digitalisierung besonders gut herkömmliche Dinge und Prozesse virtualisieren, weil wir dabei nicht mehr von raumzeitlicher „Reibung“ abhängen. Luciano Floridi hat diesbezüglich von einer „Daten-Supraleitfähigkeit“ gesprochen, welche durch die Digitalisierung ermöglicht wird. Aus einem mehrbändigen Brockhaus etwa wird eine freie Internet-Enzyklopädie, die keinen Raum in unserem Regal mehr einnimmt, nichts kostet, und darüber hinaus ständig aktuell gehalten wird. Aus einem herkömmlichen Universitätsseminar wird ein multimediales Online-Seminar, welches auf einem virtuellen Whiteboard die wichtigsten Ergebnisse dokumentiert und individualisiertes Lernen ermöglicht. Wir sehen, dass Virtualität zwar nicht dasselbe wie Illusion und Fiktion ist, jedoch gewisse Momente davon bewahrt hat. Denn durch die Virtualisierung erweitern unseren Möglichkeitsraum im Sinne kreativer Freiheit. Virtuelle Realität ist nur eine andere Form der Realisierung. Eine Ethik der Digitalität, die von der Einsicht motiviert ist, dass die Digitalisierung nicht nur technologisch einzelne Bereiche unserer Lebenswelt betrifft, sondern diese insgesamt transformiert, fasst diese denn auch im Sinne virtueller Realität auf. So betrachtet ergeben sich durch die Virtualisierung der Digitalisierung neue Realitäten, die einer eigenen ethischen Betrachtung bedürfen. Es stellt sich etwa die Frage nach unserer virtuellen Identität und Existenz, unseren virtuellen Handlungen, dem virtuellen Handlungsraum, virtuellen Regeln und Gesetzen und der Frage nach virtueller Verantwortung, wenn wir prinzipiell durch das Internet alles wissen könnten. Eine Ethik der Digitalität erfordert eine Medienkompetenz im Sinne einer digitalen Tugend. Gemeint ist damit nicht die Frage, wie lange wir am Tag vor dem PC sitzen sollen, und wie wir unsere Geräte technisch korrekt bedienen. Vielmehr ist damit eine Praxis und Lebensform gemeint, die unseren virtuellen Mediengebrauch betrifft: Wie können wir die neuen Medien so einsetzen, dass sich dadurch unsere Freiheit im Sinne virtueller Realität vergrößert? So verstanden ist Digitalität ein normativer Begriff. Denn er bedeutet, dass die digitale Technik damit auf das Ideal der Virtualisierung bezogen wird: Die digitale Technik soll so gebraucht werden, dass daraus virtuelle Realitäten entstehen, die unsere Freiheit vergrößern. Die neue Medienkritik, wie sie u.a. vom Neurowissenschaftler Manfred Spitzer vertreten wird, und wie sie sich in provokativen Buchtiteln wie „Digitale Demenz“, „Smartphone-Epidemie“ und „Cyberkrank“ zeigt, greift deswegen zu kurz. Denn sie begreift die neuen Medien nur als potenzielle Suchtfaktoren und Techniken der Abhängigkeit, als rein rezeptive Medien, anstatt sie als Formen unserer kreativen Freiheit im Sinne virtueller Realität zu verstehen. Eine Ethik der Information, wie sie Luciano Floridi für die „Infosphäre“ konzipiert hat, ist mit dem Problem belastet, dass darin Digitalisierung vor allem rezeptiv, als In-Formation, begriffen wird. Zu wenig berücksichtigt wird dabei, dass wir im Rahmen der Digitalität uns nicht nur informieren, die Digitalisierung nicht nur als ein Informations-, sondern als einen virtuellen Handlungsraum gebrauchen.