Willensschwäche (gr. akrasia, Un-beherrschtheit) ist ein Phänomen, welches das Verhältnis von unserem Willen, unserem Wissen und unserer Handlung betrifft. Wenn wir willensschwach sind, dann tun wir nicht das, wofür die meisten und besten Gründe sprechen. Wir handeln demnach wider besseres Wissen. Wir können Willensschwäche insofern als eine Form von praktischer Irrationalität verstehen. Der US-amerikanische Philosoph Donald Davidson (1917-2003) hat in seinem 1970 veröffentlichten Aufsatz über die Frage „Wie ist Willensschwäche möglich“, dieses Phänomen folgendermaßen bestimmt: „Der Wille einer handelnden Person ist schwach, sofern sie ihrem eigenen bestmöglichen Urteil zuwiderhandelt, und zwar absichtlich zuwiderhandelt.“ Er definiert Willensschwäche folgendermaßen:
„Indem der Handelnde x tut, handelt er dann und nur dann unbeherrscht, wenn:
- a) der Handelnde x absichtlich tut,
- b) der Handelnde glaubt, eine alternative Handlung y sei möglich, und
- c) der Handelnde urteilt, daß unter Berücksichtigung aller Umstände die Ausführung von y besser wäre als die Ausführung von x.“
Hier lässt sich nun weiterfragen, was konkrete Beispiele von Willensschwäche sein könnte. Diese Frage zu beantworten ist nicht leicht, denn es scheint durch und durch irrational zu sein, sich gegen das eigene Handlungsurteil zu entscheiden. Zu denken wäre hier etwa an Aversionen. Aversionen sind psychologische Dispositionen, die hochgradig individuell sind, und für die wir eigentlich keine guten Gründe angeben können. Angenommen, wir haben Hunger und die Wahl zwischen einem überaus ungesunden Gericht und einem gesunden Gericht, die uns beide ebenso sättigen würden. Das gesunde Gericht ist ferner wesentlich günstiger als das ungesunde. Alle Gründe sprechen für uns dafür, das gesunde Gericht zu kaufen und zu essen. Allerdings besitzen wir seit unserer Kindheit eine Aversion gegen einen Bestandteil des gesunden Gerichts, für die wir keine guten Gründe angeben können. Wir entscheiden uns so schließlich absichtlich für das ungesunde und teurere Gericht.
Gründe sind die Antwort auf die Frage, warum eine Person etwas getan hat. Während die Antwort „Darum!“ bloße Willkür ausdrückt und uns unbefriedigt lässt (oder sogar empört), kann eine Antwort in der Form „Weil X und Y und Z“ verschiedene Gründe enthalten, die die Handlung aus ganz verschiedenen Perspektiven der handelnden Person weiter verständlich werden lassen. Die Person hatte in diesem Licht gute Gründe für ihr Handeln. Wir können fünf Bedeutungen bzw. Aspekte von „Grund“ unterscheiden, denn Gründe haben verschiedene Funktionen für das Verständnis von Handlungen:
(1) normative Gründe („gute“, „zwingende“ oder moralische Gründe)
Wir handeln in der Regel dann, wenn wir gute Gründe für die Handlung haben. Unser Handeln richtet sich nach Normen- und Wertesystemen, die häufig individuelle, manchmal auch überindividuelle Geltung haben. Was in einem bestimmten Fall „gut“ ist, hängt oft von unserer spezifischen Situation und unserer Interessenlage ab. In der Geschichte der Philosophie wurde die These vertreten, dass es aber auch Gründe gibt, die absolut gut und zwingend sind, und die nicht von unserer individuellen Interessenlage abhängen. Solche Gründe werden häufig „moralische Gründe“ genannt. Immanuel Kant etwa vertritt die These, dass all dasjenige, was uns der Kategorische Imperativ gebietet, objektive Gründe für unser Handeln konstituiert. Die Wahrheit zu sagen ist demnach immer ein guter Grund, unabhängig von der jeweiligen Situation (in der etwa eine Notlüge manchmal recht angenehm sein könnte). Wir können verschiedene Gründe gegeneinander abwägen – Gründe in die ‚Waagschalen‘ unseres Willens legen –, um durch Deliberation den besten Grund herauszufinden und zu ‚küren‘.
(2) motivierende Gründe (handlungswirksame Gründe)
Betrachten wir das Zustandekommen unserer Handlungen aus der Perspektive des Übergangs vom Willen zur konkreten Handlung, so spielen die motivierenden und handlungswirksamen Gründe eine Rolle, die am Ende „ausschlaggebend“ dafür waren, und die gegenüber anderen – weniger guten Gründen – den Vorzug erhalten haben. Gründe nehmen dann auch oft die Gestalt von volitionalen oder emotionalen Zuständen, wie etwa Liebe oder Mitleid an, wenn wir auf ihren motivationalen Aspekt fokussieren.
(3) kausale Gründe (wirksame bzw. ursächliche Gründe)
Kausale Gründe sind wie motivierende Gründe wirksam, sind also eine Antwort auf die Frage, warum etwas geschehen ist. Während motivationale Gründe jedoch immer von der handelnden Person als „gute Gründe“ berücksichtigt werden, ist dies bei kausalen Gründen nicht immer der Fall. Die Frage, inwiefern Gründe bloß kausale Ursachen für eine Handlung sind, oder noch mehr (z.B. motivierend), ist in der Philosophie umstritten. Auch müssen kausale Gründe nicht immer auf (freies) Handeln bezogen werden. Sie lassen uns Ereignisse in der Welt z.B. naturwissenschaftlich erklären, wie etwa die Ursache für das Brennen eines Hauses durch den Einschlag eines Blitzes. Von Handlungen setzen wir jedoch voraus, dass wir sie nicht nur kausal erklären, sondern auch subjektiv verstehen können, indem wir die Präferenzen der handelnden Person berücksichtigen, die wir unter rationalen Gesichtspunkten betrachten können (auch wenn uns manchmal Handlungen als irrational erscheinen).
(4) rationale Gründe (Urteile bzw. Schlüsse auf eine Handlung)
Um eine Handlung bzw. ihr Zustandekommen verstehen, und nicht nur erklären zu können, müssen wir auch die Urteile und Schlüsse der Person berücksichtigen, die dazu geführt haben, gewisse Gründe als gute und insofern als motivationale Gründe anzunehmen. Gründe sind insofern rational, als sie sich aus Schlüssen, Abwägungen und Kalkulationen ergeben, die gewissen Rationalitätsstandards genügen. Hier stellt sich die Frage, ob rationale Gründe immer auch moralische Gründe sind, oder ob es auch rationale Gründe gibt, die nicht primär an moralischen Normen orientiert sind.
(5) explikative Gründe (erklärende und rechtfertigende Gründe)
Gründe spielen auch da eine Rolle, wo sich eine Person für ihr Handeln rechtfertigt und ‚sich erklärt‘. Sie versucht, ihre Gründe möglichst objektiv anderen Personen darzustellen und sich vor Einwänden zu verteidigen („Warum hast Du das (so und so) gemacht?“). Indem eine Person ihre Handlungen rechtfertigt, erzählt sie eine möglichst kohärente Geschichte, die für außenstehende Personen nachvollziehbar sein soll.