Einführung in die Tugendethik

Die Tugendethik stellt neben der Deontologie und dem Konsequentialismus einen der drei klassischen Ethik-Typen dar. Die Tugendethik steht in der Mitte zwischen der Deontologie und dem Konsequentialismus. Es geht ihr nicht um die willentlichen Handlungsgründe bzw. Handlungsabsichten (wie der Deontologie), und auch nicht um die Handlungsfolgen (wie dem Konsequentialismus). Vielmehr geht es ihr um die Handlungsqualität der Tugend als Ausdruck von praktischer Weisheit und Erfahrung, und um diejenigen ausgeglichenen Charaktereigenschaften, die gutes Handeln stabil fundieren. Wir können zwischen Kardinal- bzw. Primär- und Sekundärtugenden unterscheiden. Sekundärtugenden sind z.B. solche Charaktereigenschaften wie Pünktlichkeit, Höflichkeit und Gewissenhaftigkeit. Sie heißen deswegen Sekundärtugenden, weil sie nicht intrinsisch moralisch gut sind, d.h. auch in unmoralischen Kontexten möglich sind. Ein Verbrecher kann durchaus die Tugend der Gewissenhaftigkeit besitzen (nicht zu verwechseln mit einem Gewissen), wenn er etwa ein Verbrechen penibel plant. Anders verhält es sich mit Primärtugenden wie der Gerechtigkeit, die intrinsisch gut sind, d.h. per se nicht in unmoralischen Kontexten Anwendung finden können. Ein gerechter Verbrecher scheint ein Widerspruch in sich zu sein (es gibt höchstens Verbrecher, die untereinander gerecht sind, aber nicht generell). Problematisch ist auch der Begriff der Klugheit und der Rationalität, der gemeinhin zu den Primärtugenden gezählt wird. Denn er scheint eine gewisse Form von Normativität zu implizieren, die mit unmoralischem Handeln in einer Spannung steht, obwohl freilich Verbrecher auch klug und gewieft vorgehen können. Wir können ferner fragen, worin die ‚Güte‘ einer Tugend besteht, wie sich Tugenden hinsichtlich ihrer moralischen Qualität von anderen Tugenden unterscheiden, und anhand welcher Kriterien wir die Tugenden voneinander normativ unterscheiden können. Tugenden stehen im Gegensatz zu Lastern. Hier stellt sich die Frage, ob jede Tugend auch ein normatives Gegenstück als Laster hat, wie etwa Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Ferner können wir fragen, wie sich genau Tugend und Laster zueinander verhalten. Ist das Laster das genaue normative Gegenteil, also die Negation der Tugend – wie Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit –, oder ist sie nur eine Mangelhafte, privative Form von Tugend im Sinne ihrer Mangelhaftigkeit. Während in der Antike die Tugendethik sehr verbreitet war, trat sie in der frühen Neuzeit, Aufklärung und der Moderne in den Hintergrund, da hier deontologische und konsequentialistische Ansätze an Bedeutung gewannen. Seit der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts wird wieder die Tugend aus neoaristotelischer Perspektive verstärkt beachtet.