Herders Anthropologie

Der deutsche Philosoph Johann Gottfried Herder (1744-1803) hat in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-1791) versucht, das Verhältnis von Mensch und Tier genauer zu bestimmen. Anders als der französische Philosoph La Mettrie in seiner Schrift L’Homme Machine (1748) zuvor, fokussiert Herder nicht so sehr auf ein einzelnes Organ wie das Gehirn, sondern auf die Form und Gestalt des Menschen in der Natur: „Der aufrechte Gang des Menschen ist ihm einzig natürlich: ja er ist die Organisation zum ganzen Beruf seiner Gattung und sein unterscheidender Charakter.“ Herder entwickelt eine Art Vorform von Evolutionstheorie, und er versteht die Natur im Sinne seiner Evolutionstheorie als eine „bildende Künstlerin“, die mit der „toten Natur“ beginnt, mit einer Art „dunkeln aber mächtigen Triebe“. Danach treten die Pflanzen, das Pflanzentier (wie Polypen und Schnecken), als „Anfänge der lebendigen Organisation“, dann die Insekten, das Landtier und schließlich der Mensch. Die indem Herder den Affen als das Tier bestimmt, welches dem Menschen am nächsten Steht. Während Tiere wie der Biber ganz instinktgebunden sind, hat der Affe „keinen determinierenden Instinkt mehr; seine Denkungskraft steht dicht am Rande der Vernunft, am armen Rande der Nachahmung“. Nur im Menschen sind die organischen Kräfte so eingerichtet, dass sie eine über den Instinkt hinausgehende freie Verwendungsweise der Vernunft zulassen: „Mit der aufrechten Gestalt des Menschen stand ein Baum da, dessen Kräfte so proportioniert sind, daß sie dem Gehirn, als ihrer Blume und Krone, die feinsten und reichsten Säfte geben sollten. Mit jedem Aderschlag erhebt sich mehr als der sechste Teil des Bluts im menschlichen Körper allein zum Haupt; der Hauptstrom desselben erhebt sich gerade und krümmet sich sanft und teilt sich allmählich, also daß auch die entferntesten Teile des Haupts von seinem und seiner Brüder Strömen Nahrung und Wärme erhalten.“ Alle Organe des Menschen tragen dazu bei, dass er im aufrechten Gang auch die Gedanken so entwickeln, dass sie am Ende über die Natur hinausgehen: Der Mensch ist nach Herder deshalb „ein aufstrebender Baum, gekrönt mit der schönsten Krone einer feinern Gedankenbildung.“