Zusammenfassung 10. Sitzung, 18.11.2018: Schellings Theorie der Zeit in den „Weltaltern“

Thema der Sitzung war Friedrich Wilhelm Joseph Schellings Theorie der Zeit im Gegensatz zu derjenigen Immanuel Kants. Kants Transzendentalphilosophie besagt entgegen einem weit verbreiteten Missverständnis nicht, dass alles, was in der Welt existiert, etwa auch die Zeit, subjektiv sei. Vielmehr ist es so, dass Objektivität nach Kant nur durch bestimmte Strukturen der Subjektivität möglich wird. Objektivität ist nach Kant eine Funktion der Subjektivität. Diese Strukturen, die in unserer erkennenden Subjektivität enthalten sind, sind notwendig, um überhaupt so etwas wie Objektivität der Erfahrung (von Gegenständen) möglich zu machen. Die Zeit ist nach Kant also überall und für alle Subjekte objektiv gültig (sie entspricht insofern Newtons Begriff einer „absoluten Zeit“), und zwar gerade deswegen, weil sie in der transzendentalen Subjektivität begründet liegt. Damit lässt sich sagen, dass Kant die B-Reihe der Zeit (also die objektive Unterscheidbarkeit in „früher“ und „später“) im Modus der transzendentalen Subjektivität philosophisch reformulieren möchte.

Schelling hingegen möchte versuchen, die A-Reihe der Zeit, also jene Reihe, welche die subjektive Dimensionen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in sich schließt, so zu denken, dass sie objektiv wirklich ist. Ihn interessiert dabei vor allem die Dimension der Vergangenheit. Schelling wendet sich gegen eine Auffassung der Vergangenheit, die man das „Sanduhrmodell“ nennen könnte. Demnach verrinnt der Sand der Zukunft (also des oberen Glases) durch die Gegenwart (die enge Pforte) in die Vergangenheit (das untere Glas) hinein, „welche sich in jedem Augenblick durch eben diesen vergrößert, selbst noch wird, nicht ist“ (13, 119). Um wirkliche Vergangenheit zu haben, darf der Mensch nach Schelling nicht nur in der Vergangenheit existieren bzw. in ihr gefangen sein. Er muss vielmehr eine Vergangenheit „haben“, d.h. sich zu sich und seiner Geschichte – durch Selbstbewusstsein und Freiheit – verhalten können. Der Mensch kann dadurch etwas Vergangenheit werden lassen, d.h. „hinter sich bringen“; er kann aber auch etwas „vor sich bringen“, d.h. sich in die Zukunft entwerfen: „Nur der Mensch, der die Kraft hat, sich über sich selbst zu erheben, ist fähig, eine wahre Vergangenheit sich zu erschaffen; ebendieser genießt auch allein einer wahren Gegenwart, wie er allein einer eigentlichen Zukunft entgegensieht“ (13, 119). Schelling bringt damit die verschiedenen Dimensionen der Zeit in ein dynamisches Abhängigkeitsverhältnis. Daraus folgt, „daß der Gegensatz der Zeiten auf einer Steigerung beruht, nicht aber durch ein stetiges Verfließen der Zeit-Theile in einander hervorgebracht wird.“ (13, 119) Diese „Steigerung“ lässt sich so verstehen, dass wir auf der Vergangenheit, die wir „hinter und gebracht haben“ stehen, und uns auf dieser Basis, die die Gegenwart markiert, in die Zukunft entwerfen, die eine dritte Stufe darstellt. Schelling entwickelt seine Zeitauffassung gegen eine Auffassung, wonach die Zeit eine bloß „rück- und vorwärts in’s Endlose auslaufende Kette von Ursachen und Wirkungen“ sei. Diese Auffassung, die Schelling auch einen „Ungedanke“ nennt, markiert die B-Reihe der Zeit, und Schelling bringt sie mit einem „mechanischen System“ in Verbindung, welches aus der bloßen sukzessiven Abfolge von Ursache und Wirkung besteht. Schelling argumentiert gegen die Auffassung, „daß die Zeit nichts Wirkliches, nichts von unsrer Vorstellungsweise unabhängiges ist“, gegen die Auffassung, „sie als ein bloßes Getriebe unserer Gedanken anzusehen, das aufhörte, wenn wir nicht mehr Tage zählten und Stunden“. Gegen eine derartige mechanistische und relativistische Auffassung der Zeit betont Schelling die „Wesentlichkeit der Zeit“ (13, 122) und bringt dazu eine organische, teleologische (zielgerichtete) und qualitative Theorie der Zeit in Stellung. Schelling wendet sich dabei explizit gegen eine horizontale Auffassung der Zeit, wonach diese etwa auf einer Reihe von rechts (der Zukunft) nach links (zur Vergangenheit) verlaufe. Vielmehr entwickelt er ein vertikales Modell der Zeit, welches aus verschiedenen Zeitschichten besteht: „In einer undenklichen Reihe von Zeiten hat je die folgende die vorhergehende zugedeckt, so daß sie kaum etwas Ursprüngliches zeigt; eine Menge von Schichten, die Arbeit von Jahrtausenden, muß hinweggenommen werden, um endlich auf den Grund zu kommen.“ (13, 120) Schelling geht so weit, dass er im Rahmen seiner organologischen Theorie der Zeit diese als eine Art Subjekt versteht, die selbst agiert: „Alles ist nur Werk der Zeit und nur durch die Zeit erhält jedes Ding seine Eigenthümlichkeit und Bedeutung.“ (13, 120 f.) Man könnte diesen Satz aber etwas schwächer, nämlich transzendental, interpretieren: Die Zeit ist nach Schelling die Bedingung der Möglichkeit der individuellen Existenz der Dinge, jedoch nicht so, dass wir als transzendentales Subjekt der Grund der Zeit sind (wie Kant dies zuvor behauptet hatte). Das „Organische der Zeit“ besteht nach Schelling in zwei „Prinzipien“, die entgegengesetzt sind. Ein Prinzip drängt nach vorne, es „treibt“ zur Entwicklung; das andere hingegen hemmt die Entwicklung und widerstrebt ihr. Wäre nur das treibende Prinzip am Werk, so würde sich alle Entwicklung der Welt auf einen Schlag vollziehen. Erst in Verbindung mit dem hemmenden Prinzip entsteht eine Entwicklungsdimension der Zeit.