Zusammenfassung 5. Sitzung, 20.5.2020 – Avicenna, Thomas von Aquin

Die mittelalterliche Philosophie unterscheidet zwischen drei Seinsbegriffen:

  • Univoker Seinsbegriff: Das Wort „sein“ / „existieren“ wird mit Blick auf alle Dinge auf dieselbe Weise verwendet. Alle Dinge existieren auf dieselbe Weise, sind auf dieselbe Weise seiend. „Sein“ / „Existenz“ ist das allgemeinste Merkmal aller Dinge. Wenn wir von allen Eigenschaften der Dinge (ihrer Essenz) absehen, bleibt die Existenz übrig.
  • Äquivoker Seinsbegriff: Das Wort „sein“ / „existieren“ wird mit Blick auf alle Dinge auf ganz verschiedene Weise verwendet, es klingt nur gleich (vgl. „Bank“ vs. „Bank“; Homonymie). Alle Dinge existieren auf verschiedene Weise, sind auf verschiedene Weise seiend.
  • Analoger Seinsbegriff: Das Wort „sein“ / „existieren“ wird mit Blick auf alle Dinge auf verwandte Weise Alle Dinge existieren in verschiedener Hinsicht, sind auf verschiedene Weise (in verschiedenem Grade) seiend. Platon / Aristoteles vertreten einen analogen Seinsbegriff.

Der persisch-arabisch Philosoph Avicenna (980-1037) unterscheidet zwischen dem Wesen (essentia) und der Existenz (existentia) eines Dinges. Ebenso trennt der mittelalterliche Philosoph Thomas von Aquin (1225-1274) in seiner Schrift De ente et essentia (Über das Seiende und das Wesen) zwischen Wesen und Existenz: „Jede Wesenheit oder Washeit kann aber eingesehen werden, ohne daß man etwas von ihrem Sein einsieht; denn ich kann (z.B.) einsehen, was der Mensch oder der Phönix ist, und doch nicht wissen, ob er ein Sein in der Natur der Dinge hat. Also leuchtet ein, daß das Sein verschieden ist von der Wesenheit oder Washeit.“ (41 f.) Doch ist es möglich, dass es „ein Ding gibt, dessen Washeit das Sein selbst ist.“ Damit ist wohl Gott gemeint. Bei Platon ist die Einheit von Essenz und Existenz die Idee. Thomas von Aquin behandelt hier „Sein“ bzw. „Existenz“ wie eine Art Prädikat. Damit steht fest, dass er keinen äquivoken Seinsbegriff vertritt, sondern zwischen einem univoken und einem analogen Seinsverständnis changiert. Die Annahme einer Einheit von Essenz und Existenz in Gott legt nahe, dass er eher einen analogen Seinsbegriff vertritt. Gegen die Auffassung der Existenz im Sinne einer Eigenschaft eines Dinges sollte sich später Kant wenden, der Existenz nicht als ein Prädikat von Dingen ansah.