Zusammenfassung 8. Sitzung, 12.12.2019 – Fichtes Theorie der Triebe

In seiner Schrift Über Geist und Buchstab in der Philosophie (1794) interpretiert Fichte den Triebbegriff vor dem Hintergrund einer Konzeption individueller Freiheit. Damit geht er entschieden über Kants Theorie hinaus, der die Triebe dem unteren Begehrungsvermögen zugeordnet und als eine Form von Fremdbestimmung aufgefasst hatte. Fichte knüpft dabei an die kantische Unterscheidung der verschiedenen Erkenntnisvermögen, insbesondere den Begriff der (reflektierenden) Urteilskraft, an. Da die reflektierende Urteilskraft diejenige Instanz ist, durch die sich der Mensch als Künstler bzw. Genie ein individuelles Gesetz gibt (im Unterschied zum universalen Sittengesetz), ist sie besonders gut zur Demonstration individueller Freiheit geeignet. Kant hatte davon gesprochen, dass die Kunst des Genies sowohl originell als auch „exemplarisch“, d.h. normativ vorbildlich für die anderen Menschen sei (KU, AA 8:308). Fichte betrachtet nun das Wirken des Künstlers und versteht es als eine spontane und triebhafte Freiheitsleistung. Er definiert den Trieb ganz allgemein als „das einige Unabhängige und aller Bestimmung von aussen völlig Unfähige im Menschen“. Er ist „das höchste und einzige Princip der Selbstthätigkeit in uns; er allein ist es, der uns zu selbstständigen, beobachtenden und handelnden Wesen macht.“ (8:277) Damit stellt der Trieb ganz formal die Einheit von negativer und positiver Freiheit dar. Fichte analysiert also durch den Trieb die Quelle menschlicher Spontaneität, die er als „Selbsttätigkeit“ des Menschen beschreibt, „die seinen Charakter ausmacht, ihn von der gesammten Natur unterscheidet und ausserhalb ihrer Grenzen setzt“. Diese freie Spontaneität des Menschen ist als Trieb etwas dem Menschen „Eigentümtliches“. Der Trieb bestimmt sowohl das Wesen wie auch die Individualität des Menschen: „Durch seinen Trieb ist der Mensch überhaupt Mensch, und von der grössern oder geringern Kraft und Wirksamkeit des Triebes, des innern Lebens und Strebens, hängt es ab, was für ein Mensch jeder ist.“ (8:278 f.) Im Trieb zeigt sich die kraftvolle Autonomie des Menschen, die von der Heteronomie der äußeren Natur streng unterschieden ist.

Fichte vergleicht den Trieb mit einem Magneten. So wie dieser Eisenstücke anziehen kann oder nicht, so empfindet der Mensch das Gefühl der Befriedigung oder Frustration: „die Bestimmung des Triebes ist dadurch charakterisirt, sie kann gefühlt werden, und wird gefühlt, und heisst in diesem Falle ein Begehren“. Der Trieb ist damit eine Form von Subjektivität, die nicht naturalisierbar ist, sondern durch qualia – Wie-Empfindungen – bestimmt ist.

Diese triebhafte Grundstruktur oder „untheilbare[] Grundkraft“, die den Menschen zu einem freien und individuellen Wesen macht, manifestiert sich als Erkenntnistrieb, als praktischer Trieb und als ästhetischer Trieb. Fichte betont, dass sich der Trieb bereits dort bemerkbar macht, wo wir nicht handeln, sondern uns nur etwas vorstellen und erkennen. Auch die Rezeptivität muss nach Fichte als triebhaft-spontan verstanden werden, um die von außen einströmenden Sinnesdaten „aufzufassen und sie auszubilden zu einer Vorstellung“. Fichte grenzt sich damit von empiristischen Vorstellungen ab, wonach Vorstellungen bloße (schwache) Abbilder von äußeren Dingen seien. Durch unseren Trieb besitzen wir ein Vorstellungsvermögen und eine Einbildungskraft, mit der wir die Dinge in der Außenwelt frei perspektivieren und in ein Verhältnis zueinander zu bringen können. Fichte nennt diesen Trieb „Erkenntnistrieb“.  Fichte steht hier in einer gewissen Nähe zu Aristoteles, der ganz zu Beginn seiner Metaphysik vertreten hatte, dass alle Menschen von Natur aus zum Wissen streben (Pantes anthrôpoi tou eidenai oregontai physei; 980a). Für den Erkenntnistrieb wird „ein durch sich selbst und ohne alles unser Zuthun vollständig bestimmtes Ding vorausgesetzt, und der Trieb geht darauf, es mit diesen Bestimmungen, und schlechterdings mit keinen andern, in unserem Geiste durch freie Selbstthätigkeit nachzubilden“.

Der Trieb des Menschen richtet sich aber nicht nur nach Erkenntnis desjenigen, was ist (als Erkenntnistrieb), sondern auch danach, was sein soll (als praktischer Trieb). Dieser praktische Trieb ist Trieb im strengsten Sinne. Im Gegensatz zum Erkenntnistrieb richtet sich der praktische Trieb nicht nach einem vollständig bestimmten Gegenstand, sondern auf eine „durch freie Selbstthätigkeit erschaffene Vorstellung“, um „ein ihr entsprechendes Product in der Sinnenwelt hervorzubringen“. Während sich beim Erkenntnistrieb die Vorstellung nach dem Ding richtet, um es zu erfassen, richtet sich beim praktischen Trieb der Gegenstand nach der Vorstellung, um ihr entsprechend realisiert und hervorgebracht zu werden.

Davon unterscheidet Fichte einen ästhetischen Trieb, der „ausgeht auf eine gewisse bestimmte Vorstellung, bloss um der Vorstellung willen, keinesweges aber um eines Dinges willen, das ihr entspreche“ (8:279). Die Vorstellung besitzt hier also eine Autonomie, sie ist ein Zweck an sich selbst: „es wird nicht nach dem Abgebildeten, sondern nach der freien unabhängigen Form des Bildes selbst gefragt“. Die Vorstellung des Triebes referiert hier nicht auf einen ihr entsprechenden (bzw. entsprechen sollenden) Gegenstand, sondern nur auf sich selbst: „Er geht auf nichts ausser dem Menschen, sondern auf etwas, das lediglich in ihm selbst ist.“ Dadurch kann die Vorstellung nicht durch etwas außer ihr selbst befriedigt oder frustriert werden, wodurch eine besondere Form negativer und positiver Freiheit ermöglicht wird: Es handelt sich dabei um die völlige Autonomie des Selbstbewusstseins. Fichte nennt diese besondere Form von autonomer Subjektivität „Geist“: „Das unendliche, unbeschränkte Ziel unseres Triebes heisst Idee, und inwiefern ein Theil desselben in einem sinnlichen Bilde dargestellt wird, heisst dasselbe ein Ideal. Der Geist ist demnach ein Vermögen der Ideale.“ (8.291) Die autonome Selbstbezüglichkeit des ästhetischen Triebes eröffnet demnach eine neue Form von ästhetischer Realität, die nicht von Heteronomie und Zufälligkeit der Natur bedroht ist: „Der Geist lässt die Grenzen der Wirklichkeit hinter sich zurück, und in seiner eigenthümlichen Sphäre giebt es keine Grenzen. Der Trieb, dem er überlassen ist, geht ins Unendliche; durch ihn wird er fortgeführt von Aussicht zu Aussicht, und wie er das Ziel erreicht hat, das er im Gesichte hatte, eröffnen sich ihm neue Felder. Im reinen ungetrübten Aether seines Geburtslandes giebt es keine anderen Schwingungen, als die er selbst durch seinen Fittig erregt.“