Zusammenfassung, 10. Sitzung, 19.12.2018: Hans Reichenbachs Kausalitätstheorie

Hans Reichenbach (1891-1953) entwickelt seine Kausalitätstheorie im Zusammenhang neuerer naturwissenschaftlicher, insbesondere physikalischer Entdeckungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Hierzu gehören Albert Einsteins Relativitätstheorie sowie die Quantenphysik. Das Verhalten kleinster Teilchen kann im Rahmen der Quantenmechanik nicht mehr rein kausal erklärt werden. Vielmehr rückt an die Theorie der Kausalität die Wahrscheinlichkeitstheorie. Reichenbach argumentiert dafür, dass die Notwendigkeit einer wahrscheinlichkeitstheoretischen (probabilistischen) Erklärung physikalischer Phänomene gerade keine Krise für die Naturwissenschaft bedeutet, sondern aus einer gewissen Logik der naturwissenschaftlichen Entwicklung folgt. Reichenbach argumentiert gegen die Auffassung, wonach dem Wahrscheinlichkeitsbegriff „der Makel des Unvollkommenen und Spielerischen zugleich“ anhafte (159). Weder ist Wahrscheinlichkeit etwas nur „Behelfsmäßiges“, noch ist Kausalität der „große Bruder“ der Wahrscheinlichkeit. Nach Reichenbach existiert eine „Parallelität von Wahrscheinlichkeitsgesetzen und Kausalgesetzen“ (160), beide sind also auf derselben Ebene angesiedelt. Denn Wahrscheinlichkeiten lassen sich als Wahrscheinlichkeitsfunktionen mathematisch herleiten, wie im Falle eines Rouletterads, welches aus roten und schwarzen Felder gleicher Anzahl und Größe besteht. Die Wahrscheinlichkeit von 0,5 ergibt sich also aus der mathematisch beschreibbaren Struktur des Rades (genau genommen muss freilich noch noch die Fläche für die grüne Null mit einberechnet werden). Nach Reichenbach bedeuten „Wahrscheinlichkeitsgesetze und Kausalgesetze nur verschiedene logische Aufspaltungen der einen Naturgesetzlichkeit“ (176). Wie ist diese Aussage zu verstehen? Reichenbach setzt an der epistemologischen Problematik an, dass die Ursachen eines Ereignisses in der Naturwissenschaft faktisch niemals vollständig für die Erklärung der Wirkung bekannt sind: „wir können stets nur eine Anzahl überwiegender Faktoren des Geschehens herausgreifen und für die Berechnung verwerten, während daneben ein unauflöslicher Rest von Faktoren immer geringeren Einflusses zurückbleibt.“ (177). Diese Situation ähnelt den von Russell beschriebenen Randbedingungen r, die zu einem bestimmten Typ von Ereignis hinzutreten müssen, um zusammen das Antecendens einer Implikation zu bilden, welche zu einer bestimmten Wirkung führt. Wirklichkeitsaussagen (W) über physikalische Ereignisse lassen sich nach Reichenbach nur in Kombination von Hypothesen bezüglich der Kausalverbundenheit (K) der Ereignisse (E) und Hypothesen bezüglich der Wahrscheinlichkeit (P) der Restfaktoren (R) sinnvoll formulieren, was man etwa folgendermaßen formalisieren könnte:

K(E) ∧ P(R) → W

Wahrscheinlichkeits- und Kausalitätsaussagen verhalten sich demnach komplementär.