Zusammenfassung: Existenzielle Emotionen

Neben den moralischen Emotionen wie Achtung, Mitleid und Liebe existiert in der philosophischen Tradition auch noch eine Klasse von Emotionen, die sich als existenzielle Emotionen bezeichnen lassen. Dazu zählen traditionellerweise die Angst, der Scham, der Ekel, die Verzweiflung, die Hoffnung und die Glückseligkeit. Zu betonen ist, dass die Grenze zwischen moralischen und existenziellen Emotionen oft nicht scharf gezogen werden kann, sondern fließend ist. Dies zeigt sich vor allem an der Liebe, die oftmals auch als existenzielle Emotion gilt, ebenso wie die Hoffnung und die Glückseligkeit oft moralisch interpretiert werden.

Verzweiflung

Sören Kierkegaard behandelt die Emotion Verzweiflung im Rahmen seiner Theorie des menschlichen Selbst. Dieses ist ein Verhältnis aus Endlichkeit und Unendlichkeit, das sich zu sich selbst verhält. Doch verhält es sich nicht nur zu sich selbst, sondern auch zu dem Grund, von dem es gesetzt wurde. Es gibt nach Kierkegaard verschiedene Formen der Verzweiflung: „(1) daß man, in der Verzweiflung, sich nicht bewußt ist, ein Selbst zu haben (uneigentliche Verzweiflung); (2) daß man verzweifelt nicht man selbst sein will; (3) daß man verzweifelt man selbst sein will“. Die letzte Form der Verzweiflung ist nach Kierkegaard die eigentliche Verzweiflung. Die Verzweiflung besteht allgemein darin, dass das Selbst seine verschiedenen Relationen, insbesondere die zu seinem Grund, nicht transparent vor Augen hat. Kierkegaard bestimmt den Zustand, in welchem die Verzweiflung „ausgerottet“ ist, wie folgt: „im Verhalten zu sich selbst, und indem es es selbst sein will, gründet sich das Selbst durchsichtig auf die Macht, die es setzte.“ Alle Formen der Verzweiflung resultieren aus einem relationalen Ungleichgewicht des Selbst, in dem es sich ausweglos verstrickt. Damit hat Kierkegaard ein wichtiges Moment der Verzweiflung angesprochen: die Ausweglosigkeit, die nicht nur erlebt, sondern bewusst reflektiert und beurteilt wird. Insofern besitzt die Emotion der Verzweiflung ein kognitives Moment. Wer verzweifelt ist, hat die Hoffnung verloren, ist jedoch mehr als bloß „hoffnungs-los“, da er sich zur Hoffnungslosigkeit negierend verhält, sich nicht damit abfinden will und kann. Die Verzweiflung ist nach Kierkegaard nicht ein privativer Zustand des Mangels (Hoffnungs-losigkeit), sondern eine Aktivität orientierungslosen Wollens. Typisch für die Verzweiflung ist die innere Unruhe, Rastlosigkeit und Panik des Subjekts. Man kann die Verzweiflung auch als eine unkontrollierte Form der Angst charakterisieren. Während die Angst dadurch ausgezeichnet ist, dass sie immer noch eine gewisse intentionale Richtung aufweist, so fehlt dem verzweifelten Subjekt jegliche Form von Intentionalität. Das verzweifelte Subjekt ist gänzlich orientierungslos. Verzweiflung ist also nicht dasselbe wie pure Resignation, denn wer vor etwas resigniert, hat sich selbst aufgegeben. In der Verzweiflung gibt sich das Subjekt jedoch nicht auf, sondern rebelliert gegen die offenbare Ausweglosigkeit.

Hoffnung

Hoffnung ist eine innerliche Haltung gegenüber der Zukunft, die einen existenziellen Wunsch artikuliert, der sich in eine Proposition fassen lässt („Ich hoffe, dass X“). Hoffnung ist nicht allein irrational, sondern besitzt eine rationale Struktur, insofern sie immer mögliche Gründe für das unwahrscheinliche Eintreten des Erhofften angeben kann. Im Gegensatz zur Sehnsucht ist Hoffnung stiller und innerlicher, ja ‚andächtiger‘. Deswegen wurde die Hoffnung auch in der christlichen Tradition neben Glaube und Liebe als eine Tugend verstanden.

Scham

Max Scheler (1874-1928) wendet sich in seiner Schrift Über Scham und Schamgefühl (1913) gegen eine naturalistische, reduktionistische Auffassung der Scham, wonach diese „ausschließlich Tatsache[] des geschlechtlich- erotischen Lebens“ sei, „und daß erst eine assoziative Verknüpfung dieser Phänomene mit außergeschlechtlichen Tatsachen oder eine genetische Weiterbildung der Erlebnistatsachen eine mehr oder weniger bloß analoge Übertragung der betreffenden Worte auf außergeschlechtliche Erlebnisse veranlaßt habe“. Scham besitzt nach Scheler eine geistig-psychische Dimension, die nicht allein in biologischen oder anatomischen Verhältnissen aufgeht, und davon auch nicht nur (metaphorisch) abgeleitet ist. Ebenso argumentiert Scheler dafür, dass auch der Ekel als ein „ursprünglich bloß an diese Sinnessphären gebundenes und aus ihnen herstammendes Gefühl [an] zu sehen [sei], das sich dann nur auf anderes, z.B. ‚Ekel vor einem Menschen‘, ‚moralischer Ekel‘ usw. übertragen habe.“ Scheler zählt die Scham zur Klasse der Selbstgefühle, die durch eine „Rückwendung auf ein Selbst“ charakterisiert ist. Scham ist nach Scheler eine dynamische Emotion, die in der Spannung von Individualität und Allgemeinheit bzw. Öffentlichkeit besteht. Sie zeigt sich in Ansätzen formal bereits dann, wenn wir ein individuelles Erlebnis begrifflich fassen, da es hier in ein Verhältnis zur Allgemeinheit gebracht wird. Scheler vergleicht diese formale schamerzeugende Spannung damit, als ob unser Privatleben in einer Zeitung abgedruckt würde. Scham setzt nach Scheler also schon ein, bevor wir etwas Bestimmtes uns Unangenehmes gegenüber der Öffentlichkeit verbergen wollen. Diese formale dynamische Spannung von Individualität und Allgemeinheit, die die Scham auszeichnet, zeigt sich nach Scheler bereits in unserer Sexualität. Diese ist sowohl allgemein, da wir sie mit allen Lebewesen teilen, noch individuell, da hierfür keine Überindividuellen Begriffe gelten, sondern Sexualität immer individuell erlebt wird. Scheler bestimmt die Scham deswegen als „Schutzgefühl des Individuums und seines individuellen Wertes gegen die gesamte Sphäre des Allgemeinen“. Ferner bestimmt Scheler die Scham als „Gegenreaktion und gleichsam ‚Angst‘ des Individuellen, in das Allgemeine und Generelle, des höheren Wertes Träger, in die Träger der niedrigeren Werte zu versinken“ und als „ein Schuldgefühl für das individuelle Selbst überhaupt – nicht notwendig für mein individuelles Selbst, sondern für ein solches, wo immer es gegeben ist, an mir oder einem andern“. Wir schämen uns nicht nur selbst, sondern auch stellvertretend für andere, was sich im Phänomen des „Fremdschämens“ zeigt. Anders als Stimmungen wie Trauer und Wehmut, die Scheler als „eine am Ich haftende Gefühlsqualität“ bezeichnet, setzt die Scham nach Scheler keine „erlebte Ichbezogenheit des Gefühls“ voraus, sondern ist „auf einen Sachverhalt bezogen, der es von sich aus und ganz unabhängig von unserem individuellen Ichzustand ‚fordert‘“. Indem die Scham auf einen Sachverhalt bezogen ist, besitzt sie eine kognitive Urteilsstruktur. Scheler bezeichnet sie ferner als „das ‚natürliche Seelenkleid‘ unserer gesamten Geschlechtlichkeit“. Sie ist zu verstehen als „feine[] Aura von als objektive Schranke empfundener Unverletzlichkeit und Unberührbarkeit vergleichen, die den Menschenleib sphärenhaft umfließt“. In der Scham wollen wir uns verbergen, verdecken das Gesicht oder entziehen uns vor der Allgemeinheit. Gefühlsmäßig äußert sich die Emotion der Scham durch ein unangenehmes Schmerzgefühl, das uns die Schamesröte ins Gesicht treibt und eine Fluchtbewegung – sei sie körperlicher oder gedanklicher Art – auslöst. Im Gegensatz zu einer Stimmung ist die Scham intensiver und konkreter. Im Gegensatz zu einem Affekt erstreckt sie sich länger und ist mit mehr Selbstbewusstsein verbunden. Dies eröffnet einen Bezug zu moralischen Verhältnissen, in denen die Scham vorkommt, so dass sie in einem Bezug zu unserem Gewissen steht. Dies zeigt sich in Wendungen wie „Schämen Sie sich!“, oder „Das war unverschämt!“.

Ekel

Wenn wir an den Ekel denken, dann assoziieren wir damit in der Regel keine Emotion, sondern höchstens einen impulsiven Affekt, oder gar nur eine unwillkürliche, unkontrollierte Reaktion, z.B. einen Würgereflex. Jean-Paul Sartre und Martha Nussbaum bestimmen den Ekel hingegen als eine Emotion. Während Sartre den Ekel individualistisch-existenzialistisch bestimmt, analysiert Nussbaum ihn aus der Perspektive intersubjektiven der Sozialpsychologie und Sozialphilosophie.

In seinem Roman Der Ekel (1938) schildert Sartre phänomenologisch die Erfahrung des Ekels anhand des Protagonisten, der die Wurzel eines Kastanienbaumes betrachtet. Diese Wurzel wird ihm zum Anlass einer existenzialistischen Erfahrung, genauer: der Erfahrung der Existenz. Existenz ist mit einem Male keine „abstrakte Kategorie“ mehr, so wie sie etwa zuvor Kant bestimmt hatte, als er die These vertrat, Existenz sei kein reales Prädikat. Existenz tritt mit einem Male als etwas hervor, was sich enthüllt und so als obszön erscheint. Der Protagonist schildert diese Erfahrung der reinen Existenz als ekelerregend, insofern die Dinge um ihn herum zu einer „wabbeligen Masse“ verschmelzen und sinnlich durch einen „grünen und fauligen Geruch“ wahrgenommen werden. Ferner assoziiert der Protagonist die Existenz mit „Verschimmeln“ und „Obszönität“. Doch ist der Ekel nur ein Moment innerhalb eines größeren Erkenntnisprozesses des Protagonisten über die Existenz. Am Ende steht ihre Erkenntnis nicht so sehr als etwas Ekelhaftes, als vielmehr Absurdes. Die Absurdität ist der „Schlüssel der Existenz, de[r] Schlüssel [s]eines Ekels“.

Martha Nussbaum argumentiert, dass der Ekel nicht nur als ein körperliches Phänomen verstanden werden kann, sondern dass er als Emotion einen „complex cognitive content“ hat, der in der Erkenntnis besteht, etwas Schädliches in sich aufzunehmen. Der Ekel kann somit auch sozial als Reaktion auf etwas Fremdes verstanden werden, was nicht assimilierbar ist. Nussbaum argumentiert, dass der Ekel als Emotion noch stärker und aggressiver ist als bloße Abneigung oder Angst. Ekel ist eine Ablehnung eines Objekts. Nussbaum argumentiert nun, dass das Objekt des Ekels in den meisten Fällen sozial konstruiert ist. Damit steht der Ekel in einer engen Verbindung mit dem Hass.

Es zeigt sich, dass Emotionen durch ihre kognitive Dimension in sich ambivalent sind. Sie beinhalten eine Dynamik, die bei ‚eintönigen‘ Stimmungen und Affekten so nicht vorhanden ist.

Angst

Kierkegaard bestimmt die Angst vor dem Hintergrund seiner Theorie des menschlichen Selbst als ein geistiges Phänomen. Nach Kierkegaard gilt, „je weniger Geist, desto weniger Angst“, weshalb Tiere keine Angst empfinden können. Kierkegaard bestimmt die Angst als eine Wirkung des Nichts, die der träumende Geist empfindet, der noch nicht in die Opposition von Gut und Böse gesetzt ist, sich also noch vormoralisch verhält. Das Nichts lässt sich genauer als reine Möglichkeit beschreiben: „Träumend projektiert der Geist seine eigene Wirklichkeit, diese Wirklichkeit aber ist Nichts, dieses Nichts aber sieht die Unschuld ständig außerhalb ihrer.“ Kierkegaard bestimmt die Wirklichkeit des Geistes als seine Möglichkeit, die er in Freiheit ergreifen kann, die aber „ein Nichts ist, das nur ängstigen kann“. In diesem Zusammenhang unterscheidet Kierkegaard zwischen Angst und Furcht. Während sich die Furcht immer auf etwas Bestimmtes bezieht, wie z.B. die Spinnen (in Form der Arachnophobie), so ist die Angst viel unspezifischer und allgemeiner. Sie ist „die Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit für die Möglichkeit“. Die Angst zeigt sich also durch unsere Freiheit und ist darin höchst ambivalent: „Angst ist sympathetische Antipathie und antipathetische Sympathie.“ Wir werden durch die Möglichkeit(en) der Freiheit angezogen, zugleich aber ängstigen wir uns auch vor dem Ungewissen.

Martin Heidegger knüpft an Kierkegaards Begriff der Angst im Rahmen seiner Fundamentalontologie des Daseins an. Er bestimmt die Angst als „Grundbefindlichkeit“ des Daseins. Wie Kierkegaard unterscheidet er scharf zwischen Angst und Furcht. Während die Furcht sich immer auf einen konkreten Gegenstand bezieht (z.B. Spinnen), so ist das „Wovor“ der Angst das „In-der-Welt-sein als solches“. Wie bei Kierkegaard ist also der Grund der Angst „völlig unbestimmt“ und hängt mit der Möglichkeit unserer Freiheit zusammen. In der Angst begegnen wir dem Nichts insofern, als alles, was konkret in der Welt existiert „belanglos“ wird (vgl. Sartres Begriff des Ekels, aber auch Kierkegaards Begriff der Verzeiflung). Nach Heidegger hat die Angst damit aber eine positive (man könnte mit Kant sagen: „transzendentale“) Funktion. Denn sie ist die Bedingung der Möglichkeit einer Erschließung der Welt als Welt. In der Angst zeigt sich die existenzielle Freiheit, die darin besteht, sich selbst zu entwerfen. In der Angst wird so das Dasein als „Möglichsein“ sichtbar, und die Angst „offenbart im Dasein das Sein zum eigensten Seinkönnen, das heißt das Freisein für die Freiheit des Sich-selbstwählens und -ergreifens.“

Indem die Angst nicht wie die Furcht auf bestimmte Objekte bezogen ist, die sie zu einem Affekt machen, besitzt sie eine gewisse Beständigkeit und Ausdehnung, die Reflexion ermöglicht. Insofern lässt sich die Angst als eine Furcht zweiter Ordnung bestimmen. Nicht Furcht vor einem bestimmten Gegenstand, sondern vor der Gegenständlichkeit unserer Möglichkeit überhaupt.

Glückseligkeit

In der antiken Tradition wurde unter „Eudaimonia“ nicht bloßes Glücksempfinden verstanden, wie etwa eine positive Stimmung, im Gegensatz zur Stimmung der Trauer. Glückseligkeit ist nicht nur Glücksempfinden, sondern bezeichnet den Zustand eines guten Lebens, der sich in Glücksempfinden zeigt. Glückseligkeit erhält deswegen eine moralische Dimension als moralische Selbstzufriedenheit und emotionale Harmonie. Glückseligkeit ist emotionaler Ausdruck gelungenen Lebens. Sie ist eine besondere Form von Emotion, da sie eine Funktion des gesamten Lebens einer Person ist. Siie ist eine Emotion, die zur permanenten Stimmung geworden ist.