Zusammenfassung: Fichtes Begriff des freien Selbstbewusstseins

Fichtes Grundgedanke seines „Systems der Sittenlehre“, aber auch seiner „Wissenschaftslehre“, besteht darin, dass Wissen (bzw. Subjektivität, Begriff) und Sein (Objektivität) „nicht etwa außerhalb des Bewußtseins und unabhängig von ihm getrennt [sind], sondern nur im Bewußtsein […] getrennt [werden], weil diese Trennung Bedingung der Möglichkeit alles Bewußtseins ist; und durch diese Trennung entstehen erst beide.“ (5) Diese „Bedingung der Möglichkeit“ können wir Fichtes „transzendentale“ Einsicht nennen: „Es gibt kein Sein, außer vermittelst des Bewußtseins, sowie es außer demselben auch kein Wissen, als bloß subjektives und auf sein Sein gehendes, gibt.“ Bewusstsein von etwas, sei es von mir oder von etwas anderem, setzt immer Trennung voraus. Intentionalität, also die geistige Gerichtetheit auf etwas, drückt diese Trennung aus. Fichte argumentiert, dass es vor allem Bewusstsein, d.h. vor allen intentionalen Einstellungen eine Einheit oder Harmonie geben muss, in welcher das Subjektive nicht vom Objektiven getrennt ist. Diese Einheit fundiert alle intentionalen Einstellungen, weil nur so Subjekt und Objekt überhaupt in eine epistemisch fruchtbare Beziehung gesetzt werden können. Wären beide nicht ursprünglich vereinigt, so könnten sie sich in keiner Weise intentional verbinden lassen – sei es durch theoretische Erkenntnis, wenn sich das Subjekt nach einem Objekt richtet, oder durch praktische Erkenntnis, wenn sich ein Objekt (ein Zweck des Wollens) nach dem Subjekt richtet. Wir können jedoch diese ursprüngliche Einheit nicht erkennen bzw. kein Bewusstsein davon haben, weil dieses Bewusstsein ja gerade wieder eine Trennung von Subjekt und Objekt zur Folge hätte.

Fichte argumentiert, dass wir in unserem Bewusstsein eine „Zunötigung“ (13) vorfinden, die darin besteht, etwas nur um seiner selbst willen zu tun oder zu unterlassen. Diese Zunötigung ist nach Fichte „ein notwendiges Bewusstsein“ (17), das sich uns aufdringt, und beschreibt seine „moralische oder sittliche Natur“. Wir können Fichtes Wendung „Zunötigung“ im Sinne einer moralischen Notwendigkeit oder auch „Zumutung“ verstehen, die der Aufforderung des kategorischen Imperativs bei Kant entspricht.

Fichte wendet sich gegen den Einwand, dass er „aus Gedanken etwas Wirkliches herleiten“ und „aus der Region des Denkens in die davon ganz unterschiedene Region des wirklichen Seins übergehen“ wolle (16 f.). Dies würde einer Form von „produktivem Idealismus“ entsprechen, den Fichte aber nicht vertreten will. Dagegen vertritt Fichte einen „transzendentalen Idealismus“, der darin besteht, dass „ein Sein an sich“ nicht denkbar ist ohne ein Subjekt, für das ist im Denken ein Sein ist. Deswegen folgern wir nach Fichte in den Deduktionen aus dem Ich immer nur ein Denken, wenn auch ein synthetisches und apriorisches Denken. Fichte argumentiert also nicht, dass wir ein reales Sein aus dem reinen Denken (dem Subjekt) heraus deduzieren können, sondern dass Sein überhaupt nur vor dem Hintergrund von Subjektivität möglich und sinnvoll ist. Seine Theorie des Seins ist keine Ontologie, sondern eine transzendentale Theorie der Bedingung der Möglichkeit von Sein (bzw. Objektivität), welches immer auf ein Subjekt beziehbar sein muss, da ansonsten überhaupt keine Erkenntnis möglich wäre. Fichte beschreibt dies folgendermaßen: „Von einem Sein, als Sein an sich, ist gar nicht die Rede, und kann nie die Rede sein; denn die Vernunft kann nicht aus ihr selbst herausgehen.“ (17) Die unmittelbare moralische „Zunötigung“ ist deswegen nach Fichte ein Sein, weil wir seine Gründe nicht einsehen und es sich uns unmittelbar aufdringt. Fichtes „System der Sittenlehre“ versteht sich als transzendentalphilosophische Deduktion dieses notwendigen Bewusstseins.

Vor dem Hintergrund seiner Theorie des Selbstbewusstseins analysiert Fichte das Phänomen des Wollens. Im Begriff des Wollens liegt, dass es ein Objekt oder Ziel hat, welches das wollende Subjekt noch nicht erlangt hat und insofern von ihm als unterschieden gedacht wird: „Etwas wollen heißt fordern, daß ein bestimmtes Objekt, welches im Wollen nur als möglich gedacht wird (denn außerdem würde es nicht gewollt, sondern wahrgenommen) wirklicher Gegenstand einer Erfahrung werde; und durch diese Forderung wird dasselbe ja außer uns versetzt. In allem Wollen liegt sonach das Postulat eines Objekts außer uns, und es wird in seinem Begriffe etwas gedacht, das wir selbst nicht sind.“ (23 f.) Im Begriff des Wollens liegt also bereits der Begriff von etwas, das außer uns existiert bzw. existieren soll.

Fichte betont, dass Selbstbewusstsein nicht verdinglicht werden darf. Es geht ihm um die „Ableitung eines Freien aus einem Sein“, was nur im Falle von Selbstbewusstsein möglich ist. Denken, Ich, Selbstbewusstsein und Intelligenz ist nach Fichte kein „fixiertes Bestehen“, sondern „Agilität“ (35), wird also immer schon praktisch und dynamisch vorgestellt. Selbstbewusstsein bestimmt sich selbst, es besteht nicht nur in der negativen Freiheit, dass es nicht von Außen (fremd-)bestimmt wird. Ein freies Wesen kann nach Fichte nicht so bestimmt werden, dass es als etwas Bestimmtes (durch seine „Natur“) bereits existiert und sich dann selbst bestimmt. Denn so wäre es bereits durch seine Existenz prädeterminiert. Seine Natur besteht nicht im Bestimmtsein, sondern im Sich-selbst-Bestimmen: „Das Freie soll sein, ehe es bestimmt ist, — ein von seiner Bestimmtheit unabhängiges Dasein haben. Darum kann ein [bloßes] Ding nicht gedacht werden, als sich selbst bestimmend, weil es nicht eher ist, als seine Natur, d. i. der Umfang seiner Bestimmungen.“ (35) Nach Fichte geht daher der Begriff des Seins eines freien Wesens seinem „reellen Sein“ vorher: Wir sind nur dasjenige, zu dem wir uns willentlich gemacht haben und machen. Dies erinnert an Sartres Aussage, dass die Existenz der Essenz vorausgeht. Wir sind nach Fichte nur dann frei, wenn wir uns als frei begreifen, d.h. wenn wir unser Sein (bzw. Existenz) unter etwas bringen „das höher ist, als alles Sein, unter den Begriff“ (36). Fichte verbindet Freiheit und Intelligenz aufs Engste: „nur ein Freies kann als Intelligenz gedacht werden, eine Intelligenz ist notwendig frei.“

Gegenüber Kants Begriff der transzendentalen Freiheit, die als Vermögen darin besteht, spontan einen Zustand von sich aus zu beginnen, versucht Fichte, diese bloße „Nominal-Erklärung“ noch zu konkretisieren. Kant hat nach Fichte nur erklärt, dass es für Freiheit einen ersten Anfang geben muss, jedoch nicht, „wie denn ein Zustand schlechthin angefangen werden könne, oder wie sich denn das absolute Anfängen eines Zustandes denken lasse“ (36). Fichte nennt eine solche Freiheitstheorie, die dieses „Wie“ genauer bestimmt, einen „genetischen Begriff der Freiheit“ (36). Der erste Anfang darf nach Fichte nicht an Nichts gebunden werden (das wäre ein Indifferentismus) und auch nicht an etwas außer uns (das wäre ein Fall von Heteronomie). Vielmehr wird der absolute Anfang an das Denken selbst gebunden.