Zusammenfassung: Fichtes Theorie der Gemeinschaft

Fichtes „System der Sittenlehre“ lässt sich in einen subjektiven und einen intersubjektiven Teil unterscheiden, auch wenn Fichte diese Unterteilung nicht selbst ausdrücklich vornimmt. Nachdem Fichte zunächst gezeigt hat, wie das Ich sich aus Freiheit und Reflexion selbst bestimmt, und wie es in sich dem Sittengesetz als Gesetz der Freiheit entgegenstrebt, wechselt Fichte die Perspektive vom Ich auf andere Subjekte, mit denen das Ich koexistiert. Der Leib erweist sich dabei als Berührungspunkt und Schnittstelle. Fichte versteht in seinem Begriff der Sittlichkeit und Freiheit das freie Individuum und andere vernünftigen Wesen als derart aufeinander bezogen, dass letztere das erstere in ihren Handlungen als „Grenzpunkte“ definieren. Unsere Handlungen werden durch die Freiheit der anderen Wesen begrenzt – nicht im Sinne von Heteronomie, sondern gerade durch Autonomie. Fichte bestimmt den moralischen Endzweck eines jeden vernünftigen Wesens nicht als individuelle Leistung, sondern als „Selbständigkeit der Vernunft überhaupt“, die er mit der „Moralität aller vernünftigen Wesen“ gleichsetzt (230). Er interpretiert also das Kant’sche Sittengesetz derart, dass wir „alle gleich handeln“ sollen. Nach Kant jedoch sollen wir nicht gleich handeln, sondern nur gleich wollen, d.h. unsere Maximen vernünftig verallgemeinern. Fichte interpretiert Kants Forderung des kategorischen Imperativs derart, dass etwas nicht Maxime des individuellen Willens sein soll, weil es Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung werden kann (vgl. Kritik der praktischen Vernunft, AA 5: 30), „sondern umgekehrt, weil etwas Maxime meines Willens sein soll, darum kann es auch Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung sein“ (231). Fichte denkt also den Maximentest nicht vom Verfahren der allgemeinen Gesetzgebung, etwa im Sinne einer Gebrauchsanweisung oder eines vom Individuum abgelösten Algorithmus her, sondern vom freien Individuum: „denn wer beurteilt denn wieder, ob etwas Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung sein könne? Doch wohl ich selbst.“ (231). Fichte spricht nicht so sehr wie Kant von einer Übereinstimmung der individuellen Maximen mit dem allgemeinen Sittengesetz, sondern zwischen der Übereinstimmung des vernünftigen Individuums mit sich selbst und mit den anderen vernünftigen Individuen. Diese Übereinstimmung versteht Fichte nicht logisch-formal wie Kant, sondern lebensweltlich und politisch: „jeder soll in der Gesellschaft leben, und in ihr bleiben, denn außerdem könnte er keine Übereinstimmung mit sich hervorbringen, welches ihm doch absolut geboten ist. Wer sich absondert, der gibt seinen Zweck auf; und die Verbreitung der Moralität ist ihm ganz gleichgültig.“ (232) Sofern wir Bekanntschaft mit anderen Vernunftwese gemacht haben, sind wir nach Fichte dazu moralisch verpflichtet, diese als Bestandteil der Vernunftwelt anzuerkennen. Damit wendet sich Fichte gegen jede Form von Einsiedelei. Wir können unserer moralischen Pflicht nur durch „Handeln in und für die Gesellschaft“ (232) gerecht werden. Fichte spricht von einer „Wechselwirkung aller mit allen zur Hervorbringung gemeinschaftlicher praktischer Überzeugungen“, die unsere Pflicht ist. Nach Fichte folgt daraus eine „Gleichförmigkeit des Handelns“. Das Individuum ist nach Fichte mit Blick auf das Sittengesetz nur ein „Werkzeuge seiner Realisation in der Sinnenwelt“ (233). Diese Objektivierung des Individuums unter moralischen Gesetzen ist durchaus problematisch, weil sie einen moralistischen Charakter besitzt. Die Bildung der Sinnenwelt nach Vernunftgesetzen ist nach Fichte Pflicht für alle vernünftigen Wesen. Nach Kant können wir wissen, dass wir frei handeln können, weil wir uns der absoluten Forderung des Sittengesetzes bewusst sind („Du kannst, denn Du sollst“). Fichte interpretiert dieses Verhältnis auf intersubjektive Weise so, dass wir wissen können, dass wir nach allgemeiner (gesellschaftlicher) Übereinstimmung handeln sollen. Daraus folgt die moralische Notwendigkeit eines Staates und einer Staatsverfassung, und er bezeichnet diese als „absolute Gewissenspflicht“ (235). Allerdings finden sich bei Fichte durch seine Moralisierung des Politischen latent totalitaristische Tendenzen: „Wer dies nicht will, ist in der Gesellschaft gar nicht zu dulden, weil man mit gutem Gewissen, mit ihm in gar keine Gemeinschaft treten kann“ (235).

Fichte unterscheidet das „Reine“ und die „Individualität“ im Vernunftwesen. Das „Reine“ – hier bezieht sich Fichte auf Kants Begriff der „reinen (praktischen) Vernunft“, ist das Sittengesetz. Fichte versteht die formale Tatsache, dass jeder von uns ein Individuum ist, als „Vereinigungsglied des Reinen und Empirischen“ (251). Die materiale Individualität hingegen, „daß einer dieses oder jenes bestimmte Individuum ist, ist zufällig, sonach empirischen Ursprungs.“ (251) Das Objekt im Sinne des Zweckes des Sittengesetzes ist nach Fichte kein Individuum, sondern die Vernunft selbst, womit „das Sittengesetz sich selbst zum Objekte“ hat. Diese Vernunft wird nach Fichte durch „die gesamte Gemeine vernünftiger Wesen außer mir“ dargestellt (251). Fichte bestimmt die Forderung des Sittengesetzes an das Ich als „Bedingung einer fortdauernden Wechselwirkung zwischen mir und der Welt, der sinnlichen sowohl als der vernünftigen“ (256). Fichte versteht die Institutionalisierung dieser gebotenen Wechselwirkung als „Kirche“ bzw. als „ethisches Gemeinwesen“ (232).