Zusammenfassung: MacIntyres Tugendbegriff

Der schottisch-US-amerikanische Philosoph Alasdair MacIntyre (*1929) hat in seinem 1981 erschienenen Buch „After Virtue“ (dt.: „Der Verlust der Tugend“) als einer der ersten jüngeren Philosophen die aristotelische Tugendethik wieder in den ethischen Diskurs eingebracht. McIntyre kritisiert an der westlich-aufklärerischen Tradition der Ethik, die mit der Neuzeit eingesetzt hat, dass sie auf den aristotelischen Zweckbegriff verzichtet und einen Individualismus vertritt. Dagegen betont MacIntyre stärker die Bedeutung der menschlichen Gemeinschaft für eine Ethik. MacIntyre bemerkt, dass zu unterschiedlichen Zeiten verschiedene Auffassungen von Tugend vertreten wurden, so dass es schwierig ist, zu bestimmen, was eine Tugend auszeichnet. Nach Homer ist Tugend eine Qualität, die es einem Individuum erlaubt, seine soziale Rolle gut zu erfüllen. Nach Aristoteles ist die Tugend eine Qualität, die es dem Individuum erlaubt, sein spezifisch menschliches Telos, d.h. seine Zweckbestimmung, zu erfüllen. Nach dem Gründervater der Vereinigten Staaten, dem Puritaner Benjamin Franklin (1706-1790), ist Tugend eine Qualität, die dafür nützt, irdischen und himmlischen Erfolg zu haben. MacIntyre fragt nun, ob wir auf Basis dieser recht verschiedenen Bestimmungen einen Kernbegriff der Tugend bestimmen können. Nach MacIntyre ist allen drei Auffassungen von Tugend gemeinsam, dass sie bestimmte Formen des sozialen und moralischen Lebens voraussetzen. Bei Homer ist dies die soziale Rolle, bei Aristoteles das gute Leben als Ziel menschlichen Handelns und bei Franklin das der Nützlichkeit. Wie aber können wir diese drei heterogenen Ansätze in einem einheitlichen Kernbegriff zusammenführen? MacIntyre argumentiert, dass der Kernbegriff der Tugend in sich reflexiv gestuft ist. Er spricht von einer „logischen Entwicklung“ dieses Begriffs, der verschiedene, aufeinander aufbauende Stufen hat. Zugrunde liegt ihm die Stufe der Praxis, der zweite eine narrative Ordnung des individuellen Lebens, der dritte die moralische Tradition. Jede dieser Stufen setzt die vorhergehende voraus, reflektiert und interpretiert diese aber zugleich, so dass sich eine genetische Entwicklung ergibt. MacIntyre definiert die Tugend insofern als „eine erworbene menschliche Eigenschaft, deren Besitz und Ausübung uns dazu befähigt, jene Güter zu erreichen, die den Praktiken innewohnen, und deren Fehlen uns effektiv daran hindert, jene Güter zu erreichen.“ MacIntyre betont, dass diese Güter nur erreicht werden können, wenn wir uns innerhalb der Praxis in unserer Beziehung zu anderen Praktizierenden unterordnen. Im Bereich des Handelns funktioniert die Autorität der Güter und Normen so, dass sie alle subjektivistischen und emotivistischen Analysen des moralischen Urteils ausschließt. Ein moralisches Urteil ist nur dann moralisch, wenn es bezogen ist auf einen Zweck und eine Gemeinschaft. Es kann nicht dadurch verstanden werden, dass es nur auf subjektiven Ansichten basiert oder dass es nur ein emotionaler subjektiver Ausdruck ist.