Max Scheler (1874-1928) wendet sich in seiner Schrift Über Scham und Schamgefühl (1913) gegen eine naturalistische, reduktionistische Auffassung der Scham, wonach diese „ausschließlich Tatsache[] des geschlechtlich- erotischen Lebens“ sei, „und daß erst eine assoziative Verknüpfung dieser Phänomene mit außergeschlechtlichen Tatsachen oder eine genetische Weiterbildung der Erlebnistatsachen eine mehr oder weniger bloß analoge Übertragung der betreffenden Worte auf außergeschlechtliche Erlebnisse veranlaßt habe“. Scham besitzt nach Scheler eine geistig-psychische Dimension, die nicht allein in biologischen oder anatomischen Verhältnissen aufgeht, und davon auch nicht nur (metaphorisch) abgeleitet ist. Ebenso argumentiert Scheler gegen die Auffassung, dass auch der Ekel als ein „ursprünglich bloß an diese Sinnessphären gebundenes und aus ihnen herstammendes Gefühl [an] zu sehen [sei], das sich dann nur auf anderes, z.B. ‚Ekel vor einem Menschen‘, ‚moralischer Ekel‘ usw. übertragen habe.“ Scheler zählt die Scham zur Klasse der Selbstgefühle, die durch eine „Rückwendung auf ein Selbst“ charakterisiert ist. Scham ist nach Scheler eine dynamische Emotion, die in der Spannung von Individualität und Allgemeinheit bzw. Öffentlichkeit besteht. Sie zeigt sich in Ansätzen formal bereits dann, wenn wir ein individuelles Erlebnis begrifflich fassen, da es hier in ein Verhältnis zur Allgemeinheit gebracht wird. Scheler vergleicht diese formale schamerzeugende Spannung damit, als ob unser Privatleben in einer Zeitung abgedruckt würde. Scham setzt nach Scheler also schon ein, bevor wir etwas bestimmtes uns Unangenehmes gegenüber der Öffentlichkeit verbergen wollen. Diese formale dynamische Spannung von Individualität und Allgemeinheit, die die Scham auszeichnet, zeigt sich nach Scheler bereits in unserer Sexualität. Diese ist sowohl allgemein, da wir sie mit allen Lebewesen teilen, noch individuell, da hierfür keine Überindividuellen Begriffe gelten, sondern Sexualität immer individuell erlebt wird. Scheler bestimmt die Scham deswegen als „Schutzgefühl des Individuums und seines individuellen Wertes gegen die gesamte Sphäre des Allgemeinen“. Ferner bestimmt Scheler die Scham als „Gegenreaktion und gleichsam ‚Angst‘ des Individuellen, in das Allgemeine und Generelle, des höheren Wertes Träger, in die Träger der niedrigeren Werte zu versinken“ und als „ein Schuldgefühl für das individuelle Selbst überhaupt – nicht notwendig für mein individuelles Selbst, sondern für ein solches, wo immer es gegeben ist, an mir oder einem andern“. Wir schämen uns nicht nur selbst, sondern auch stellvertretend für andere, was sich im Phänomen des „Fremdschämens“ zeigt. Anders als Stimmungen wie Trauer und Wehmut, die Scheler als „eine am Ich haftende Gefühlsqualität“ bezeichnet, setzt die Scham nach Scheler keine „erlebte Ichbezogenheit des Gefühls“ voraus, sondern ist „auf einen Sachverhalt bezogen, der es von sich aus und ganz unabhängig von unserem individuellen Ichzustand ‚fordert‘“. Indem die Scham auf einen Sachverhalt bezogen ist, besitzt sie eine kognitive Urteilsstruktur. Scheler bezeichnet sie ferner als „das ‚natürliche Seelenkleid‘ unserer gesamten Geschlechtlichkeit“. Sie ist zu verstehen als „feine[] Aura von als objektive Schranke empfundener Unverletzlichkeit und Unberührbarkeit vergleichen, die den Menschenleib sphärenhaft umfließt“. In der Scham wollen wir uns verbergen, verdecken das Gesicht oder entziehen uns vor der Allgemeinheit. Gefühlsmäßig äußert sich die Emotion der Scham durch ein unangenehmes Schmerzgefühl, das uns die Schamesröte ins Gesicht treibt und eine Fluchtbewegung – sei sie körperlicher oder gedanklicher Art – auslöst. Im Gegensatz zu einer Stimmung ist die Scham intensiver und konkreter. Im Gegensatz zu einem Affekt erstreckt sie sich länger und ist mit mehr Selbstbewusstsein verbunden. Dies eröffnet einen Bezug zu moralischen Verhältnissen, in denen die Scham vorkommt, so dass sie in einem Bezug zu unserem Gewissen steht. Dies zeigt sich in Wendungen wie „Schämen Sie sich!“, oder „Das war unverschämt!“.