Zusammenfassung: Politik der Digitalität

Die Digitalisierung hat politische Auswirkungen, die in der „Charta der Digitalen Grundrechte der Europäischen Union“ (www.digitalcharta.eu) durch 18 Artikel thematisiert werden. Die politischen Herausforderungen der Digitalisierung, die diese Charta notwendig machen, bestehen in „neue[n] Formen der Automatisierung, Vernetzung, künstliche Intelligenz, Vorhersage und Steuerung menschlichen Verhaltens, Massenüberwachung, Robotik und Mensch-Maschine-Interaktion sowie Machtkonzentration bei staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren.“ Die Autorinnen und Autoren der Charta betonen, dass „die zunehmende Digitalisierung zur Veränderung der Grundlagen unserer Existenz führt“ und das „Grundrechte und demokratische Grundprinzipien im digitalen Zeitalter auf neue Herausforderungen und Bedrohungen treffen“. Zugleich betonen sie die Notwendigkeit, „das Digitale nicht als Quelle der Angst, sondern als Chance für ein gutes Leben in einer globalen Zukunft zu erfassen“. Freilich kann eine solche Erfassung der Digitalisierung nicht allein mit technologischen und politischen Kategorien geschehen, sondern nur im Verbund mit philosophischen Klärungen solcher Grundbegriffe wie „virtuelle Realität“, „virtueller Handlungsraum“, „Information“ und „Medium“. Die in Artikel 3 („Gleichheit“) enthaltene Wendung „digitale Sphäre“ ist dabei viel zu unspezifisch.

Artikel 1 fordert: „Die Würde des Menschen ist auch im digitalen Zeitalter unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen. Keine technische Entwicklung darf sie beeinträchtigen.“ Hier stellt sich freilich die Frage, was genau unter dem „digitalem Zeitalter“ zu verstehen ist, und worin genau die menschliche Würde, insbesondere ihre mögliche Beeinträchtigung durch die Digitalisierung besteht. Unsere Würde wird durch die Digitalisierung dann bedroht, wenn wir zum bloßen Datenobjekt für kommerzielle Unternehmen instrumentalisiert werden. Dies widerspricht der sogenannten „Selbstzweckformel“ von Kants kategorischem Imperativ, die folgendermaßen lautet: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“ (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 4:429). Bedroht wird durch die Digitalisierung jedoch nur insofern unsere Würde, als wir sie als ein technologisches oder gar technokratisches Phänomen verstehen, dem wir fremd als bloße Objekte oder Instrumente entgegenstehen. Unsere Würde wird gerade dadurch vergrößert, dass wir das Phänomen der Digitalisierung nicht als technologischen Prozess, sondern als Ermöglichungsgrund für virtuelle Realitäten verstehen, durch die sich vorhandene Dinge und Prozesse neu realisieren lassen. Aus einem bloßen Informationsraum wird somit ein Handlungsraum, ein inklusiver, herrschaftsfreier und demokratischer Raum der gleichberechtigten reibungslosen Interaktion, in dem wir keine Objekte kommerzieller Interessen sind, sondern Subjekte der virtuellen Selbstbestimmung, die den Einsatz von KI zu ihrer Erweiterung gerade nicht ausschließt. Die Virtualisierung verhindert also, dass wir zu bloßen Objekten werden und ermöglicht gerade unsere Subjektivierung und freiheitliche Entfaltung.

Artikel 2 fordert angesichts der Informationsflut durch die neuen Medien „das persönliche Recht auf Nichtwissen“. Dem hat der Oxforder Internet-Ethiker Luciano Floridi widersprochen: „„[W] ir [erleben] eine substanzielle Aushöhlung des Rechts auf Nichtwissen. In einer immer reibungsloser funktionierenden Infosphäre verliert die Behauptung, man habe nichts gewusst, angesichts von leicht vorhersehbaren Ereignissen und kaum ignorierbaren Fakten zunehmend an Glaubwürdigkeit.“ (Floridi 2015, 66) Was spricht für das Recht auf Nichtwissen, was dagegen? Zunächst stellt sich aus philosophischer Perspektive die Frage, was eigentlich im digitalen Zeitalter „Wissen“ bedeutet. Es liegt nahe, hier vielmehr den Begriff der Information ins Zentrum zu stellen. Informationen können aber wahr oder falsch sein, und um Wissen zu erlangen, müssen wir mit Informationen kritisch umgehen. Informationen werden in der Infosphäre dann zu wissen, wenn sie hinreichend vernetzt und von einer Öffentlichkeit gleichberechtigt diskutiert werden können, wie dies etwa auf Wikipedia der Fall ist. Für ein Recht auf Nichtwissen spricht, dass im Falle einer Pflicht auf Wissen das mediale Subjekt überlastet und überfordert sein könnte. Auch kann man nur schwer wissen, was man wissen sollte und was nicht. Für eine Pflicht zu Wissen bzw. gegen ein Recht auf Nichtwissen im digitalen Zeitalter spricht, dass Informationen leicht beschaffbar sind, da sie keiner medialen Reibung mehr unterliegen. Wir sind als freie und verantwortliche Personen sowohl für unser Wissen wie auch für unser Nichtwissen verantwortlich: Wir hätten immer auch etwas wissen können, auch wenn wir es faktisch nicht wissen, etwa weil wir es (unbewusst) nicht wissen wollten, weil es für uns zu unangenehm war, weil wir bequem waren, oder weil wir uns selbst darin täuschen, dass eine Information bedeutsam oder unbedeutsam sei.

Angesichts unseres Verhältnisses zu Informationen im Internet stellt sich die Frage, wie dieses genau zu verstehen ist. Bezeichnungen wie das „Surfen“ im Internet suggerieren, dass wir uns von der Informationsflut treiben lassen und nur manchmal Eigeninitiative übernehmen, etwa um unter eine bestimmte „Datenwelle“ zu geraten, oder um zu vermeiden, von der Informationsflut geschluckt zu werden. Einem solchen Modell liegt die Annahme zugrunde, dass wir im Wesentlichen nur Informationskonsumenten sind. Dagegen steht der Gedanke des Internets als eines virtuellen Handlungsraumes, in welchem wir in und durch Informationen interagieren, uns nicht nur treiben lassen, sondern aktiv Verbindungen zwischen bereits bestehenden Informationen herstellen oder selbst Informationen beisteuern.