Zusammenfassung: Sein und Sollen / Naturalistischer Fehlschluss

Wie verhalten sich Tatsachen und Normen, Sein und Sollen, Deskriptivität und Normativität zueinander? Es gibt drei Möglichkeiten, das Verhältnis zu denken:

  • Differenzthese: Sein und Sollen sind kategorisch voneinander verschieden, und es gibt keinen Übergang vom Sein zum Sollen bzw. wir können vom Sein einer Tatsache nicht auf das Sollen einer Tatsache schließen.
  • Übergangsthese: Es gibt einen Übergang vom Sein zum Sollen. Wir können von deskriptiven Tatsachen auf normative Tatsachen schließen.
  • Identitätsthese: Sein und Sollen sind im Grunde identisch: Es gibt Bereiche der Wirklichkeit, die normativ sind.

In der Geschichte der Philosophie hat der schottische Philosoph David Hume (1711-1776) die (Differenz-)These vertreten, dass es keinen Übergang vom Sein zum Sollen gibt. In seinem „Traktat über die menschliche Natur“ schreibt er, dass in der Philosophie häufig ein plötzlicher Wechsel von deskriptiven Sätzen mit „ist“ oder „nicht ist“ zu normativen Sätzen mit „sollte“ oder „sollte nicht“ vorkommt, etwa der Form: „X ist (nicht), als sollte (nicht) Y“. Nach Hume muss für diesen Wechsel ein Grund angegeben werden, und ohne einen solchen Grund handelt es sich um einen „Sein-Sollen-Fehlschluss“. Auch Immanuel Kant hat für die Differenzthese argumentiert: „Das Sollen drückt eine Art von Notwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen aus, die in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt. Der Verstand kann von dieser nur erkennen, was da ist oder gewesen ist oder sein wird. Es ist unmöglich, daß etwas darin anders sein soll, als es in allen diesen Zeitverhältnissen in der Tat ist; ja das Sollen, wenn man bloß den Lauf der Natur vor Augen hat, hat ganz und gar keine Bedeutung. Wir können gar nicht fragen, was in der Natur geschehen soll; eben so wenig als, was für Eigenschaften ein Zirkel haben soll; sondern was darin geschieht, oder welche Eigenschaften der letztere hat.“ (Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 575)

Die Frage nach dem Verhältnis von Sein und Sollen stellt sich besonders dringlich in der Natur- und Umweltethik. Wie können wir die (nichtmenschliche) Natur als etwas Schützenswertes begründen? Häufig wird argumentiert, dass die Natur deswegen geschützt werden sollte, da sie eine organische Ordnung besitzt und eigene Zwecke verfolgt. Ein direkter Schluss von der organischen Ordnung zur Natur zu deren Schützenswürdigkeit wäre aber nach David Hume ein Fehlschluss. Wir müssen deswegen weitere (schwach normative) Prämissen mit in unser Argument aufnehmen, damit dieser Schluss verständlich wird und gut begründet ist. Man könnte etwa folgendermaßen argumentieren, wie Hans Jonas es in seinem Buch „Das Prinzip Verantwortung“ getan hat:

Prämisse1 (deskriptiv): Die Natur ist organisch verfasst bzw. besitzt eine Ordnung.

Prämisse2 (deskriptiv): Die Natur verfolgt eigene Zwecke.

Prämisse3 (deskriptiv-normativ): Eine Natur, die Zwecke verfolgt, setzt Werte.

Prämisse4 (deskriptiv-normativ): Eine Welt mit Zwecken ist besser als eine Welt ohne.

Konklusion (normativ): Die (organische) Natur ist schutzbedürftig.

Konklusion (normativ): Also sollen wir die Natur schützen.

Natürlich kann hier die Prämisse 3 aus naturwissenschaftlicher und die Prämisse 4 aus ethischer Sicht mit guten Gründen kritisiert werden. Wir kommen nicht umhin, (schwach) normative Prämissen einzufügen, um von Prämisse 1 auf die Konklusion zu kommen. Es gibt jedoch philosophische Begriffe wie denjenigen der Vernunft, die als solche bereits schwach normativ sind. Denn Rationalität enthält in sich nicht nur einen Bewertungsmaßstab für das Denken, sondern auch für das daraus entspringende Handeln. Wir können deswegen den Begriff der Vernunft als normativen „Zwischenbegriff“ charakterisieren.

Der englische Philosoph George Edward (G.E.) Moore (1873-1958) hat den Begriff des „Naturalistischen Fehlschlusses“ („naturalistic fallacy“) geprägt, der ebenfalls das Verhältnis von deskriptiven und normativen Sätzen betrifft. Moore argumentiert, dass das Prädikat „gut“ nicht definiert werden kann, z.B. durch natürliche Eigenschaften. „Gut“ ist ein „einfacher Begriff“, den wir bei all unseren Definitionen immer voraussetzen müssen. Wir unterliegen dann einem naturalistischen Fehlschluss, wenn wir versuchen, „gut“ über Prädikate wie „begehrenswert“ zu definieren, denn „[b]egehrenswert meint einfach das, was begehrt werden sollte oder was begehrt zu werden verdient“. Der Begriff des Begehrenswerten setzt also immer schon den Begriff des Guten voraus. Naturalistische Fehlschlüsse finden sich häufig in Argumentationen, die den Begriff der Natur bzw. der „Natürlichkeit“ für normative Schlussfolgerungen heranziehen, etwa in sozialdarwinistischen Kontexten.