Moralische Motivation steht im Spannungsfeld von kognitiver Moralerkenntnis und affektiver Moralbewegung und betrifft ein zentrales Problem der Moralpsychologie. Das Problem der Moralkognition besteht darin, dass wir allein durch die Erkenntnis der Moralität nicht schon unmittelbar zum moralischen Handeln bewegt werden. Das Problem der Moralbewegung besteht darin, dass wir dadurch nicht genug unser Handeln begründen. Moralische Motivation erfordert jedoch, dass die Motive, die unser Handeln bestimmen, moralisch sind, und dies bedeutet wiederum, dass sie auf moralisch begründete Weise motivieren. Sie setzt eine Balance aus zu viel kognitiver Distanz und zu viel emotionaler Nähe voraus. Die philosophische Tradition unterscheidet hier zwischen dem Erkenntnis- und Beurteilungsprinzip der Moralität, dem principium diiudicationis, und dem Ausübungsprinzip der Moral, dem principium executionis. Was aber sind begrifflich die geeigneten Kandidaten, um einen überzeugenden Begriff moralischer Motivation zu konzipieren? Es liegt nahe, einen Mittelweg zwischen abstrakter Kognition und zu konkreter Affektivität zu wählen und dabei auf den Begriff des Willens zu rekurrieren. Der Begriff des Willens ist interpretierbar sowohl im Sinne von kognitiven wie auch affektiven Dimensionen. Neben dem Begriff des Grundes, der immer noch eine kognitive Schlagseite hat, und dem der Empathie, der zu stark affektiv ist, bietet sich auch der Begriff des Interesses im Sinne der moralischen Anteilnahme an. Interesse ist mehr als nur Intentionalität, als der wie auch immer gearteten Gerichtetheit auf ein moralisches Subjekt oder Objekt. Im Gegensatz zur bloßen Intentionalität impliziert das moralische Interesse, dass wir uns mit dem intentionalen Subjekt oder Objekt in moralischer Hinsicht identifizieren. Moralisches Interesse impliziert also sowohl ein moralisches Fremd- wie auch ein Selbstverhältnis. Darin kann eine Möglichkeit erblickt werden, die Kluft zwischen dem moralischen Subjekt und seinem intentionalen Handlungsobjekt zu überbrücken.
Die Tugendtheorie in Aristoteles‘ Nikomachischer Ethik lässt sich als ein Versuch interpretieren, einen Begriff moralischer Motivation zu entwickeln, der den Anfordernissen von Kognition und Motivation gerecht wird. Im Gegensatz zu den dianoetischen (Verstandes-)Tugenden, die wir durch Belehrung entwickeln, entwickeln wir die ethischen Tugenden durch Gewöhnung. Aristoteles unterscheidet gemäß seiner Moralpsychologie zwischen Affekten, Tugenden und Habitus. Er bestimmt Tugenden als Charakter und Habitus, im rechten Maß die Mitte (mesotes) zwischen affektiven Extremen zu finden. Diese Mitte lässt sich im Sinne moralischer Motivation so interpretieren, als dabei jener gesuchte Mittelweg zwischen abstrakter Kognition und konkreter Emotionalität gewählt wird, und zwar nicht von Situation zu Situation, sondern im Sinne einer durch Erfahrung und Gewohnheit gebildeten Urteilskraft. Die Kognitions- und Bewegungsanforderung wird dadurch in der Tugend als Habitus erfüllt, dass wir Affekte unserem moralischen Handeln zugrunde legen, die jedoch im rechten (durch die Klugheit und Urteilskraft nach Erfahrung und Gewohnheit vermittelten) Maß eingesetzt werden. Im Habitus vermitteln wir Vernunft mit Affektivität gemäß der Rationalitäts- und Bewegungsanforderung. Wir etablieren darin einen Mittelweg zwischen zu viel Nähe (Affekten) und zu großer Distanz (Vernunft), indem wir sie durch Erfahrung und Gewohnheit zu einem Habitus vermitteln. Insofern bestimmt Aristoteles auch die Tugenden als „Akte der Selbstbestimmung“.