Im Gegensatz zum Guten und Wahren haben das Böse und der Irrtum in der Geschichte der Philosophie relativ wenig Beachtung erfahren. Oft wird das Böse nur als ein Mangel des Guten und der Irrtum als ein Mangel an Wahrheit verstanden. Einer solchen privativen Auffassung entgeht aber, dass wir gerade durch diese negativen Phänomene weiter Aufschluss über das Gute und die Wahrheit erhalten können. Das Böse und Falsche sind nicht gänzlich vom Guten und Wahren verschieden, sondern die andere Seite des Wahren und Guten – ihre Schattenseite. Es gilt daher genau zu untersuchen, wie die Schattenseite des Guten und Wahren zustande kommt, und welche Prozesse – insbesondere durch uns selbst – daran beteiligt sind.
Der antike Philosoph Platon hat seine Theorie des Guten vor allem in seinen drei berühmten Gleichnissen seines Hauptwerks „Der Staat“ (Politeia) entwickelt – dem Sonnen-, dem Linien- und dem Höhlengleichnis. Platon vergleicht das Gute mit der Sonne. So wie die Sonne uns die Dinge in der Welt erkennen und auch durch ihr Licht mitunter entstehen lässt, so ist die Idee des Guten der Erkenntnis- und Seinsgrund der Dinge in der Welt. Das Gute ist deswegen nach Platon „jenseits“ des Seins, weil es Seiendes erst erkennbar und existierend macht. In seinem Höhlen- und Liniengleichnis beschreibt Platon, wie sich die verschiedenen Bereiche der Wirklichkeit zueinander verhalten. Nach Platon existieren Dinge in verschiedenem Grad. Während die Idee des Guten die Perfektion des Seienden ist, da sie dieses erkennen lässt und auch der Grund ihrer Existenz ist, stehen die bloßen Schattenbilder von Gegenständen am unteren Ende der Skala des „Liniengleichnisses“. Sie sind im geringsten Maße seiend, da sie nur Schein darstellen und uns täuschen. Hier stellt sich nun die Frage, wo wir nach Platon die Idee des Bösen verorten müssten. Platon selbst spricht nicht von der Idee des Bösen. Konsequenterweise müsste sie jedoch noch unterhalb der bloßen Schattenbilder stehen, gewissermaßen als Prinzip der Täuschung. Hier stellt sich freilich die Frage, in welchem Verhältnis die Idee des Guten und die Idee des Bösen dann zueinander stehen, und ob die Idee des Bösen nicht einen Selbstwiderspruch darstellt.
Der Neuplatoniker Plotin hat nach Platon die Frage aufgeworfen, „woher das Böse (ta kaka) in das Seiende (ta onta)“ hinein kommt. Plotin argumentiert, dass das Böse „in der Abwesenheit (steresis) alles Guten (to agathon) zur Erscheinung kommt“. Plotin bestimmt das Gute als „dasjenige, an dem alles hängt, nach dem alles Seiende strebt […], da es dasselbe zu seinem Prinzip hat und seiner bedarf; es selbst ist mangellos, sich selber genug, nichts bedürfend, aller Dinge Maß und Grenze, aus sich selbst Geist und Wesenheit und Seele und Leben und geistige Tätigkeit spendend.“ Da das Gute nach Plotin im Seienden und demjenigen, was über das Sein hinausgeht (bzw. der Idee des Guten) besteht, kann das Böse darin gerade nicht zu finden sein. Daraus folgt nach Plotin, dass es nur „in dem Nichtseienden ist“, „gleichsam wie eine gewisse Form des Nichtseienden und an etwas mit dem Nichtseienden Vermischtem oder irgendwie mit dem Nichtseienden in Gemeinschaft Stehendem“. Plotin differenziert das Böse in seiner problematischen Seinsweise im Ausgang von Platon jedoch weiter. Es ist „keineswegs das unbedingt nicht Seiende, sondern nur etwas anderes als das Seiende“. Es ist „nicht so nichtseiend wie Bewegung und Ruhe am Seienden, sondern wie ein Bild des Seienden oder noch viel mehr nichtseiend.“ Das Böse existiert also im niedrigsten möglichen Maß überhaupt, ohne völlig nichts zu sein. Es steht an der Schwelle des Nichts. Plotin bestimmt das Böse weiter als „Maßlosigkeit […] gegenüber dem Maße, Unbegrenztes gegenüber der Grenze, Ungestaltetes gegenüber dem Gestaltenden, stets Bedürftiges gegenüber dem Selbstgenügsamen, stets unbestimmt, nirgends feststehend, all-leidend, ungesättigt, gänzlich Armut“. Es geht Platon und Plotin also weniger darum, warum und wie wir das Böse selbst verursachen, sondern wie das Böse, sofern es existiert, sich zu anderen Dingen in der Welt verhält, und wie wir es hinsichtlich seiner Seinsweise erkennen und bestimmen können.