Wie bei Schelling, so hängt auch bei Kierkegaard der Begriff des Bösen (bzw. der Sünde) aufs Engste mit der Bestimmung des Menschen zusammen. Ähnlich wie Schelling bestimmt Kierkegaard den Menschen als ein „geistiges“ Wesen, welches aus zwei entgegengesetzten Prinzipien konstituiert wird. Der „Geist“ oder das „Selbst“ ist nach Kierkegaard „eine Synthese von Unendlichkeit und Endlichkeit, von Zeitlichem und Ewigem, von Freiheit und Notwendigkeit, kurz eine Synthese.“ (9) Die Selbstreflexivität allein macht jedoch noch nicht die ganze relationale Verfassung des Menschen aus. Kierkegaard überbietet die gängigen anthropologischen Theorien des Bösen, indem er den Menschen in einer weiteren Dimension betrachtet, die erst einen Begriff der Sünde ermöglicht. Als ein selbstreflexives Verhältnis zweier diametral entgegengesetzter Prinzipien steht der Mensch zugleich im Verhältnis zu seinem Grund (sofern es sich nicht selbst erschaffen oder „gesetzt“ hat). Diesen Grund des Selbst bestimmt Kierkegaard als Gott.
Aus der Struktur dieses komplexen Gefüges – dem Selbst- und Grundverhältnis – kann das Wesen der Sünde bestimmt werden. Sie ist, ganz formal gesprochen, ein Missverhältnis: „Sünde ist: vor Gott, oder mit der Vorstellung von Gott verzweifelt nicht man selbst sein zu wollen, oder verzweifelt man selbst sein zu wollen. Die Sünde ist demnach potenzierte Schwäche oder potenzierter Trotz: die Sünde ist die Potenzierung der Verzweiflung.“ (77) Deshalb ist der Gegensatz zur Sünde, also ein rechtes Verhältnis des Selbst in seiner komplexen Relation, auch nicht die Tugend oder Moralität, sondern der Glaube (die Tugend würde nur die interne Relation des Selbst, nicht aber seine Relation zu seinem Grund in Betracht ziehen): „Glaube ist: daß das Selbst, indem es es selbst ist und indem es es selbst sein will, durchsichtig in Gott gründet.“ (83)
Bei seiner Bestimmung der Sünde (als eines um eine weitere relationale Dimension erweiterten Begriffs des Bösen) grenzt sich Kierkegaard von der antiken Tradition ab, die seiner Ansicht nach in Sokrates ihre Wurzeln hat und der zufolge das Böse in einem kognitiven Defizit bestehe. Sokrates hatte im Dialog Gorgias behauptet, „niemand täte mit Willen Unrecht, sondern alle Unrechttuenden täten Unrecht wider Willen“ (Gorgias, 509e5) Darin liegt nach Kierkegaard aber gerade ein Problem, denn was ist der zurechenbare Grund der Unwissenheit? Dagegen wendet Kierkegaard ein, dass das die Sünde als Sünde nur dann eintreten kann, wenn sie mit Bewusstsein verbunden ist. Der Grund der Unwissenheit kann nicht in einem Mangel an Vernunft oder Erkenntnis, sondern nur im Willen selbst liegen. Kierkegaard fasst diesen Willen auch als eine Art von „Trotz“ (91) auf, d.h. als ein bewusstes Widerstehen gegenüber dem Guten, ein Phänomen, welches die antike Philosophie nicht zu denken vermochte: „Die griechische Intellektualität war zu glücklich, zu naiv, zu ästhetisch, zu ironisch, zu witzig – zu sündig, als daß es ihr in den Kopf gewollt hätte, jemand könne es wissentlich unterlassen das Gute zu tun, oder wissentlich, mit dem Wissen von dem, was richtig ist, das Falsche tun. Das Griechentum statuiert einen intellektuellen kategorischen Imperativ.“ (91)
Den Grund der Sünde in dieser willentlichen Aktivität, und nicht einfach in der (mangelnden) Erkenntnis zu suchen, zeichnet nach Kierkegaard das Christentum gegenüber der sokratischen Antike aus: „Sokrates gibt die Erklärung, wer das Richtige nicht tue, der habe es auch nicht verstanden; das Christentum holt jedoch ein bißchen weiter aus und sagt, der Grund dafür sei, daß er es nicht verstehen wolle, und der Grund dafür wieder, daß er das Richtige nicht wolle. Und ferner lehrt es, daß ein Mensch das Falsche tut (der eigentliche Trotz), obwohl er das Richtige versteht, oder daß er es unterläßt das Richtige zu tun, obwohl er es versteht“ (96f.)
Daran zeigt sich auch, dass Kierkegaard im Anschluss an Schelling eine positive, perversive Theorie des Bösen vertritt. Es gilt für ihn, „[d]aß die Sünde keine Negation, sondern eine Position ist“ (98). Dieses „Positive“ der Sünde besteht gegenüber dem Bösen nicht darin, gegen die moralische Norm zu verstoßen, sondern dass sie vor Gott geschieht. Auch ist die Sünde kein einmaliges, punktuelles Ereignis, sondern eine „ponierende Kontinuierlichkeit“ (109). Die Sünde gehorcht einer anderen Logik als dem Gedanken von positiven und negativen Werten, die sich aufaddieren lassen: „Der Zustand in der Sünde ist im tiefsten Sinne die Sünde, die einzelnen Sünden sind nicht die Fortsetzung der Sünde, sondern der Ausdruck für die Fortsetzung der Sünde“ (109). Demnach ist die Sünde als eine Art tragender Substanz zu verstehen, die den ganzen Charakter des Menschen fundiert und über die Zeit aufrecht erhält. Deshalb ist die Sünde, wie Kierkegaard sagt, „etwas Konsequentes, und in dieser Konsequenz in sich des Bösen hat sie auch eine gewisse Kraft“ (110).
Kierkegaard bezeichnet einen solchen, durch die Sünde fundierten Menschen als „dämonischen Menschen“ (111). Der dämonische Mensch will sein böses Wesen um jeden Preis aufrechterhalten und vor dem Einfluss des Guten bewahren, da er durch die Sünde konstituiert wird, ihr seine Identität verdankt: „Gerade weil der dämonische Mensch konsequent in sich und in der Konsequenz des Bösen ist, gerade deshalb hat er auch eine Totalität zu verlieren.“ (ebd.)