Viren und Virtualität

Die Corona-Krise hat uns die Grenzen der alltäglichen Interaktion wie nur wenige Ereignisse der Vergangenheit vor Augen geführt. Ausfälle, Ausgehverbote und Quarantäne beschränken unsere Freiheit zunehmend. Weniger in den Blick ist hingegen die Tatsache gerückt, dass diese Krise uns neue Freiheiten eröffnet. Not macht erfinderisch. Die Corona-Krise ist zum Katalysator einer neuen Entwicklung geworden — einer Entwicklung der virtuellen Realität. Gemeint sind damit nicht bloße Simulationen von alltäglichen Handlungsformen. Die Corona-Krise verlangt nicht nach solchen Spielereien. Virtuelle Realitäten sind genauso verbindlich und ernst wie es jene nicht-virtuelle Realitäten sind, nach denen wir uns in der Krise vergeblich zurücksehen. Virtuelle Realitäten ereignen sich unabhängig von räumlichen Begrenzungen, sind nicht physikalisch gebunden. Wir erzeugen virtuelle Realitäten dann, wenn wir gezwungen sind, Vertrautes aufzugeben und auf neue, andere Weise zu versuchen. Deshalb sollten wir Virtualität und Realität nicht gegeneinander ausspielen. Vielmehr sollten wir Virtualität als eine neue Form von Realität verstehen, die seit der Corona-Krise immer mehr Teil unserer Lebenswelt wird.

Die virtuelle Realität, von der hier die Rede ist, verdankt sich in erster Linie der Digitalisierung. Diese stellt jene Mittel zur Verfügung, die wir für die konsequente Entfaltung einer virtuellen Realität benötigen. Indem die Digitalisierung virtuelle Realität ermöglicht und so Teil unserer Lebenswelt wird, betreten wir den Raum der Digitalität. Der Schweizer Kulturwissenschaftler Felix Stalder spricht davon, dass wir seit dem Jahr 2000 „eine neue kulturelle Konstellation“ vorfinden, welche durch die Bedingungen der Digitalisierung konstituiert sind. Was aber ist der Unterschied zwischen Digitalität und Digitalisierung? Während die Digitalisierung das technische Phänomen der Umwandlung analoger in digitale Information betrifft, bezieht sich die Digitalität auf die lebensweltliche Bedeutung der Digitalisierung, und das heißt vor allem: auf virtuelle Realität. Die lebensweltliche Bedeutung der Digitalisierung liegt auf der Hand: Wir können digitale Daten unabhängig von Raum und Zeit konservieren und hypertextuell vernetzen. Wir können einerseits virtuelle Handlungen durch einen bloßen Mausklick vollziehen und unsere Identität dabei verschleiern. Anderseits hinterlassen wir nicht mehr löschbare Spuren im Internet. Nicht nur unser Realitätsbegriff, sondern auch unser Raum- und Zeitbegriff wird im Rahmen der Digitalität strapaziert. Der Faktor Raum (und auch Zeit) spielt im Bereich der digitalen virtuellen Realität eine andere Rolle als in der physikalischen Realität. Digitale Daten sind ortslos, von überall abrufbar, omnipräsent. Digitale Objekte werden immer mehr miteinander vernetzt und treten zueinander in Beziehung — eine Beziehung der Gleichwertigkeit. Sie bilden ein „Internet of Things“.

Das Internet darf als ein Musterfall der Digitalität gelten. Es ist wesentlich dezentral organisiert. Wir können uns jederzeit von jedem Ort in es einklinken und es weiter entwickeln. Das Internet verändert unser Denken: Nicht mehr Analyse, sondern hypertextuelle Assoziation und Vergleich sind die virutuellen Erkenntnisformen. Virtuelle Realitäten und Objekte treten darin in ein viel intimeres Verhältnis als es physikalische Objekte tun. Der Oxforder Philosoph Luciano Floridi hat dafür den Begriff der „Infosphäre“ geprägt.

Doch eröffnet uns die Digitalität nicht nur neue virtuelle Möglichkeiten, sondern stellt uns auch vor neue Probleme. So erwächst aus der Orts- und Zeitlosigkeit virtueller Objekte die ethische Problematik, dass vergangene Ereignisse nicht vergehen. Das Internet vergisst nichts. Es gleicht einem gewaltigen kulturellen Gedächtnis, das alle Informationen durch seine Zeitlosigkeit nebeneinander abbildet. Scheinbar Disparates wird so mit einem Klick in Beziehung gesetzt. Unser gewohnter Begriff von Kausalität verliert an Bedeutung. In diesem Zusammenhang hat die “Charta der Digitalen Grundrechte” der Europäischen Union (www.digitalcharta.eu) in Artikel 18 ein „Recht auf Vergessenwerden“ gefordert: „Jeder Mensch hat das Recht auf digitalen Neuanfang.“

Philip Specht, Autor des Buches „Die 50 wichtigsten Themen der Digitalisierung“, schreibt, diese werde uns „mit der wohl größten zivilisatorischen Herausforderung konfrontieren, die es je zu bewältigen galt.“ Es ist bemerkenswert, dass diese digitale Herausforderung gerade in dem Moment virulent wird, wo die Corona-Krise unsere gesamte Zivilisation bedroht. Wir sollten beide Herausforderungen annehmen und das Beste daraus machen: virtuelle Realitäten.