Die Kindheit ist ein interdisziplinäres Phänomen. Sie wird gewöhnlich wissenschaftlich erforscht von den Disziplinen der Pädiatrie, Pädagogik und Psychologie. Warum sollte sich aber gerade die Philosophie damit befassen? Handelt es sich bei der Kindheit nicht um ein Phänomen, das noch „unreif“ ist und daher dem hohen philosophischen Ideal von Freiheit und Vernunft nicht gerecht wird, also gar kein adäquater philosophischer Gegenstand sein kann? Gegen diese Ansicht spricht, dass die Kindheit nicht nur ein defizitärer Zustand ist, der durch das Erwachsenenalter schließlich vervollständigt wird. Kindheit ist vielmehr ein Phänomen eigenen Rechts, das zwischen biologischer Natur und sozialer Norm, zwischen natürlicher Entwicklung und künstlicher Erziehung, zwischen Eigenständigkeit und Abhängigkeit existiert. Als solches kann es aus der philosophischen Perspektive der (anfänglichen) Existenz, der Bildung, der Autonomie und der Rechte diskutiert und analysiert werden. Die Kindheit wird so zu einem Forschungsgegenstand der philosophischen Anthropologie, der Ontologie sowie der Ethik.
Dass die Kindheit ein natürlich-normatives Doppelphänomen ist, zeigt sich etwa daran, dass man davon spricht, dass Kinder „rein“ seien. Hier ist nicht gemeint, dass Kinder „reinlich“, sondern dass sie moralisch noch „unschuldig“ seien. Kindheit wird so oft zu einem romantischen Ideal erhoben, nach dem wir uns als Erwachsene zurücksehnen, ohne es jemals wieder erreichen zu können. Die Romantisierung der Kindheit ist deswegen problematisch, da Kindheit kein fester Zustand ist, sondern eine Phase oder besser gesagt: ein Übergangs- und Entwicklungsphänomen. Diese Entwicklung kann sowohl naturalistisch als Heranreifung wie auch normativ im Sinne der stufenweise erfolgenden Entwicklung von Moralbewusstsein verstanden werden.
Die Philosophie der Kindheit ist eng an die Physiologie der Kindheit gebunden. Der Schweizer Zoologe Adolf Portmann (1897-1982) spricht mit Blick auf den Menschen von einem „extrauterines Frühjahr“. Der Mensch kommt biologisch-evolutionär gesehen zu früh auf die Welt, ist noch völlig unselbständig und abhängig, während andere neugeborenen Lebewesen vollständig auf die Welt kommen. Deswegen muss im Falle des Menschen die soziale Umgebung (Eltern, Verwandte, Institutionen) diesen Mangel sozial kompensieren. Unsere biologische Evolution wird in die soziale Sphäre verlagert. Biologie und Soziologie sind insofern bei der menschlichen Entwicklung aufs Engste verschränkt, seine natürliche Entwicklung ist zugleich sozial.
An diese negativ-anthropologische Auffassung des Menschen hat in der Folge Arnold Gehlen (1904-1976) angeknüpft. Seiner Auffassung nach ist der Mensch als Kind „hauptsächlich durch Mängel bestimmt“. Die menschliche Natur ist nun so beschaffen, dass sie diese Mängel künstlich durch Technik beheben muss. Dies kann nur dadurch geschehen, dass der Mensch handelt, d.h. seine Welt und sich selbst aktiv ‚in die Hand nimmt‘, d.h. seine Mängel durch Vernunft kompensiert.
Gegenüber der Bestimmung des Kindes als Mängelwesen hat die Philosophin Hannah Arendt (1906-1975) die Bestimmung des Menschen zum Handeln durch seine „Natalität“, also sein Geborensein, erklärt: „Der Neubeginn, der mit jeder Geburt in die Welt kommt, kann sich in der Welt nur darum zur Geltung bringen, weil dem Neuankömmling die Fähigkeit zukommt, selbst einen neuen Anfang zu machen, d. h. zu handeln.“ Damit grenzt sie sich von Martin Heidegger ab, der die These vertreten hatte, dass sich die menschliche Existenz immer „im Vorlaufen zum unbestimmt gewissen Tode“ vollzieht, da nur dadurch der Mensch seine Möglichkeiten der Existenz erschließen kann.