Zunächst stand die Frage im Zentrum, inwiefern wir überhaupt aus genuin philosophischer Sicht über das Phänomen der Digitalisierung sprechen können. Sind hierfür nicht andere Fächer wie Informatik, Medienwissenschaft oder Soziologie zuständig? Wir können dies dadurch überprüfen, dass wir verschiedene Philosophische Disziplinen auf die Phänomene der Digitalisierung anwenden und untersuchen, ob dadurch neue Erkenntnisse zutage treten.
Ontologie: Inwiefern haben wir es im Zuge der Digitalisierung mit neuen Phänomenen zu tun, die eine kausale Kraft besitzen? Haben wir Gründe dafür, eine eigene digitale Realität (so etwas wie eine „Infosphäre“ oder eine „dritte Natur“) anzunehmen? Wie verhalten sich Gegenstände der „dritten Natur“ zu Gegenständen der ersten und „zweiten Natur“ (der Kultur)?
Epistemologie: Inwiefern verändert die Digitalisierung unsere Weise der Erkenntnis der Welt und unsere Rationalität? Welche Rolle spielt das Phänomen der digitalen Information und der Vernetzung von Wissen? Wie können wir im Rahmen der Digitalisierung/Digitalität überhaupt noch von Erkenntnis sprechen und Wahrheit und Falschheit auseinanderhalten?
Philosophie des Geistes: Inwiefern lassen sich unsere Gedanken und mentalen Phänomene externalisieren, also in die Sphäre des Digitalen übertragen? Wie verhalten sich neuronale Netze zur Struktur unseres Gehirns und unseres Geistes? Ist es möglich, dass künstliche Intelligenz Bewusstsein, Selbstbewusstsein und gar Willensfreiheit/Autonomie besitzt?
Ethik: Inwiefern verändert und gefährdet die Digitalisierung die Weise unseres Zusammenlebens? Welche (neuen) ethischen Normen müssen im Rahmen der Digitalisierung gelten? Wie verhalten sich die Normen der „dritten Natur“ zu den Normen der zweiten Natur?
Ästhetik: Inwiefern eröffnet die Digitalisierung neue Formen des künstlerischen und kulturellen Ausdrucks? Inwiefern können interaktive Computerspiele neue poetische Gattungen hervorbringen? Welche ästhetische Rolle spielt das Phänomen der Immersion? Inwiefern verschwimmen dadurch die Grenzen von Fiktion und Realität?
Kulturphilosophie: Inwiefern eröffnet die Digitalisierung neue Formen der Kultur? Gibt es so etwas wie eine „Kultur der Digitalität“ (Felix Stalder)? Wie verändert die Digitalisierung die lebensweltlichen Weisen unseres Zusammenlebens? Gibt es eine digitale Lebenswelt? Wie verhalten sich analoge und digitale Lebenswelt zueinander?
Das Phänomen der künstlichen neuronalen Netze lässt sich besonders aus der Perspektive der Philosophie des Geistes betrachten. Hier stellen sich folgende Fragen: Wie verhalten sich biologische und künstliche (digitale) neuronale Netze zueinander? Welche epistemischen und mentalen Eigenschaften besitzen neuronale Netze (wenn überhaupt)? Inwiefern können neuronale Netze Dinge erkennen und denken? Inwiefern können neuronale Netze gar (Selbst-)Bewusstsein besitzen?
Gemeinhin wird angenommen, dass sich künstliche Intelligenz in der fehlerfreien Durchführung komplizierter Rechenoperationen zeige. Dies ist allerdings ein Irrtum. Denn selbst komplexe Rechnungen basieren auf sehr basalen Operationen, die sich durch Annäherungswerte auf die Grundrechenarten reduzieren lassen. Viel eher hat Intelligenz (und Denken) etwa damit zu tun, Muster zu erkennen. Während es uns sehr leicht fällt, Gesichter zu identifizieren und verschiedene Arten von Tieren auseinanderzuhalten, bereitet dies künstlicher Intelligenz große Probleme. Der Grund dafür liegt darin, dass hier eine viel komplexere Informationsverarbeitung erforderlich ist: Wichtiges muss von unwichtigem unterschieden werden; derselbe Gegenstand kann aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden; zwei Gegenstände desselben Typs können sich von ihrer Größe stark unterscheiden, so dass ihre entscheidenden Merkmale nur schwer zu erkennen sind (Rashid 2017, 2).
Künstliche neuronale Netze stellen nur einen Teilbereich der künstlichen Intelligenz dar. Sie werden eingesetzt bei der automatische Muster- und Schrifterkennung (z.B. ABBYY Fine Reader) und bei der Spracherkennung (z.B. Google Home oder Amazon Alexa). Neuronale Netze sind komplexe Systeme der Daten- und Informationsverarbeitung. Sie helfen uns, die Überfülle an Informationen zu ordnen und systematisch auszuwerten. Erst dadurch wird Information für uns wirklich brauchbar und ‚sinnvoll‘. Dabei orientieren sie sich an biologischen Systemen der „ersten Natur“ wie unser Gehirn mit seinen Nervenzellen. Ein menschliches Gehirn besteht aus ca. 100.000.000.000 Neuronen, ein Bienengehirn aus 950.000 Neuronen, das einer Fruchtfliege aus 100.000 Neuronen und das Nervensystem eines Fadenwurms aus 302 Neuronen (Rashid 2017, 31). Die entscheidende Wirkungsweise von Neuronen liegt darin, dass sie nicht jedes Eingangssignal weiterleiten, sondern erst dann aktiv werden, wenn ein bestimmter Schwellwert überschritten wird. Dadurch kann eine Überflutung von Reizen oder Informationen vermieden werden. Neurone selektieren bzw. filtern also Daten. Die spezifische Verfassung dieses Schwellenwerts kann durch eine Funktion mathematisch modelliert werden, die man auch Aktivierungsfunktion nennt.
Quelle: Wikipedia
Ein neuronales Netzwerk arbeitet so, dass es trainiert und eingelernt wird. Dies geschieht auf Basis von großen Daten- bzw. Informationsmengen wie Textkorpora. Das Übersetzungsprogramm „DeepL“ etwa basiert auf über einer Milliarde deutsch-englischer Übersetzungen. Ein neuronales Netzwerk wird so trainiert, dass ein bestimmter Sollwert der Ausgabe definiert wird, der durch komplexe Verknüpfungen von Funktionen, die auf die Eingabedaten angewendet werden, erzielt werden soll. Hierzu sind notwendigerweise immer weitere Anpassungen notwendig, die die Aktivierungsfunktionen und auch die Gewichtungen der Eingabeparameter betreffen. Somit kann erreicht werden, dass bestimmte Informationen von vornherein als irrelevant ausgesiebt werden (wie etwa ein Datenrauschen). Es kristallisieren sich dann im Laufe der Zeit komplexe Mustererkennungsverfahren heraus, die immer zuverlässiger die Eingabedaten klassifizieren können. Im Idealfall ist ein neuronales Netz selbstbezüglich, so dass der Ausgabewert automatisch wieder zum Eingabewert genommen wird. Man nennt solche neuronalen Netze auch „rekurrente“ oder „rückgekoppelte“ Netze. Nach mehreren Durchläufen auf Basis großer Informationsmengen kann ein Lerneffekt des Netzwerks erzielt werden, der in der adäquaten Anpassung der Gewichtungen liegt. Hierin kann eine Art von „Wissen“ erblickt werden, welches durch ein Versuch-und-Irrtums-Verfahren erlangt wurde und wie es Lebewesen in der Regel tun.
Doch können wir wirklich davon reden, dass neuronale Netze etwas „erkennen“, etwas „wissen“ oder gar etwas „denken“? Können wir überhaupt neuronale Netze als Subjekte von mentalen Akten auffassen? Künstliche neuronale Netze sind Kategorisierungsmaschinen. Sie ordnen Informationen und Daten im Idealfall einer richtigen Kategorie zu. Doch müssen ihr diese Kategorien vorher gegeben werden. Dies nennt Immanuel Kant auch die „bestimmtende Urteilskraft“. Davon unterscheidet er die „relfkektierende Urteilskraft“. Sie bedeutet, dass man zu einem gegebenen Datum eine neue kategorie (er)findet, die man vorher noch nicht kannte. Ihr verdanken wir Kreativität. Dazu scheinen neuronale Netze (noch) nicht in der Lage zu sein. Allgemein lässt sich Intelligenz als Problemlösungskompetenz verstehen. Haben aber künstliche neuronale Netze überhaupt ein Problembewusstsein? Es scheint so, dass ihnen die Probleme von außen (durch Menschen) vorgegeben sind. Erst dann, wenn ein neuronales Netz sich eigenständig Problemen annimmt und diese zu lösen versucht, können wir im strengen Sinne von Intelligenz sprechen. Dazu wiederum scheint es notwendig zu sein, dass das neuronale Netz die Struktur des Lebens aufweist: Ein Grundinteresse an seiner Existenz, die permanent gefährdet ist und der seine Existenz zu einem Problem werden kann, auf das reagiert werden muss.