Kants praktischer Kompatibilismus (18.11.2020)

Während Kant in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ besonders die transzendentale Freiheit als Kausalität der Vernunft ins Zentrum stellte, so widmet sich Kant in seiner „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ und vor allem seiner „Kritik der praktischen Vernunft“ mit der praktischen Freiheit, die unseren Willen, unsere Handlung und unsere Autonomie betrifft. Kant bestimmt die Autonomie als „die Beschaffenheit des Willens, dadurch derselbe ihm selbst (unabhängig von aller Beschaffenheit der Gegenstände des Wollens) ein Gesetz ist.“ (GMS, 4:440) Mit dem Gesetz meint Kant das allgemeine Gesetz des kategorischen Imperativs, also das Sittengesetz. Kant bestimmt den Wille als „eine Art von Causalität lebender Wesen, so fern sie vernünftig sind“ (GMS 4:446). Freiheit bestimmt Kant (negativ) als eine „diejenige Eigenschaft dieser Causalität sein, da sie unabhängig von fremden sie bestimmenden Ursachen wirkend sein kann“. Positiv bestimmt Kant Freiheit als „Causalität nach unwandelbaren Gesetzen, aber von besonderer Art“. Damit ist die Kausalität aus Freiheit gemeint, die Kant in der „Kritik der reinen Vernunft“ diskutiert hatte. Kant verbindet also Autonomie und moralische Gesetzlichkeit aufs Engste. Er schreibt: „ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen [ist] einerlei.“ (GMS, 4:447). Kant geht so weit zu behaupten, dass im Begriff Freiheit des Willens analytisch die Sittlichkeit enthalten ist. Kant bezeichnet das Verhältnis von Freiheit und Sittengesetz so, dass er erstere als Seinsgrund, letzteres als Erkenntnisgrund des jeweils anderen bestimmt. Dies bedeutet, dass Freiheit die Sittlichkeit fundiert, dass aber die Sittlichkeit uns durch das Gebot des Sittengesetzes uns wiederum unsere Freiheit erkennen lässt. Denn wenn wir etwas sollen, so folgt daraus, dass wir es auch können müssen, und dass wir auch anders können müssen. In der „Kritischen Beleuchtung der Analytik der reinen praktischen Vernunft“ kommt Kant noch einmal auf die transzendentale Freiheit zu sprechen. Er betont die Notwendigkeit der Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung, um Freiheit mit Naturgesetzlichkeit zu vereinen. Erstere existieren außerhalb von Raum und Zeit, während letztere raumzeitlich strukturiert sind. Dies bedeutet, dass für erstere die Naturgesetzlichkeit nicht existiert, und dass sie deswegen transzendental frei sein können. Man kann sich dies so veranschaulichen, dass man phänomenologisch die Willensbildung in den Blick nimmt. Unsere Entscheidung verläuft so, dass wir Gründe bewerten und gegeneinander abwägen, dass wir Möglichkeiten in Betracht ziehen und kontrafaktisch denken. Diese subjektiven Phänomene scheinen sich nicht gut naturalisieren zu lassen. Kants zentrale kompatibilistische Frage lautet nun am Beispiel eines Diebstahls: „wie kann derjenige in demselben Zeitpunkte in Absicht auf dieselbe Handlung ganz frei heißen, in welchem, und in derselben Absicht, er doch unter einer unvermeidlichen Naturnothwendigkeit steht?“ (KpV, 5:95 f.) Kant spricht diesbezüglich von einem „scheinbaren Widerspruch zwischen Naturmechanismus und Freiheit in ein und derselben Handlung“, was zeigt, dass er beide vereinbaren möchte. Kant diskutiert noch eine andere Form von Kompatibilismus, die er „komparative Freiheit“ nennt. Dieser zufolge genügt es, dass „der bestimmende Naturgrund innerlich im wirkenden Wesen liegt“ (KpV, 5:96). Dies bedeutet aber im Endeffekt nur Handlungsfreiheit, da der Ursprung des inneren Prinzips nicht weiter kontrolliert werden kann. Die Freiheit würde so „im Grunde nichts besser, als die Freiheit eines Bratenwenders sein, der auch, wenn er einmal aufgezogen worden, von selbst seine Bewegungen verrichtet.“ (KpV, 5:97)