Reflexionen zum Wahrheitsbegriff

Wie der Begriff „Sein“, so ist auch der Begriff „Wahrheit“ sehr problematisch. Wird etwas „wahr“ genannt, so scheint dies in einem ganz anderen Sinne zu geschehen, als wenn etwas „grün“ oder „schön“ genannt wird. Das Prädikat „wahr“ fügt wie das Prädikat „seiend“ nichts zur Sache hinzu. Eine wahre und eine falsche Aussage haben dieselbe Struktur, ebenso wie – um ein Beispiel Immanuel Kants zu verwenden – hundert existierende und hundert nur gedachte Taler denselben Betrag haben. Eher bedeutet „seiend“ und „wahr“ den Modus oder die Präsentationsweise der jeweiligen Sache. Man könnte deswegen „wahr“ und „seiend“ als Prädikate zweiter Stufe beschreiben. In der mittelalterlichen Tradition wurden Begriffe wie „Wahrheit“ und „Sein“ deswegen auch als „Transzendentalien“ bezeichnet: Es handelt sich um basale Kategorien, die nicht weiter hintergehbar sind, sondern gewissermaßen die Rahmenbedingung für alles Existierende darstellen.

Eine Definition dessen, was Wahrheit ist, ist ebenso problematisch. Um Wahrheit zu definieren, müssen wir immer schon den Begriff der Wahrheit voraussetzen, denn die Definition soll ja das wahre Wesen der Wahrheit erfassen. Wahrheit zu definieren scheint also ein zirkuläres Unterfangen zu sein.

Was konnotieren wir alles mit dem Terminus „Wahrheit“? In der Alltagssprache sprechen wir von „absoluten“, „objektiven“ und „individuellen“ oder „subjektiven“ Wahrheiten. Jeder hat seine eigene Wahrheit – so scheint es zumindest. Kann es die Wahrheit – also absolute Wahrheit – überhaupt geben? Gibt es Grade von Wahrheit? Und wie steht es mit der Aussage „Es gibt keine Wahrheit“? Ist sie wahr oder falsch? Wäre sie wahr, so würde sie sich selbst widersprechen. Muss es deswegen notwendigerweise Wahrheit geben? Es scheint zumindest, dass wir nicht ohne das Erheben von Wahrheitsansprüchen denken können.

In der Logik sprechen wir von Wahrheitswerten. Eine Aussage kann wahr oder falsch sein, aber nichts Drittes: tertium non datur. Aber legen Erkenntnisse der Quantenphysik nicht nahe, dass es auch unbestimmte Zustände gibt? Und gibt es Aussagen, die prinzipiell unentscheidbar sind, wie der Gödelsche Unvollständigkeitssatz nahe legt?

Die Naturwissenschaften scheinen es da leichter zu haben. Eine Theorie gilt so lange als wahr, so lange sie nicht falsifiziert, also durch empirische Gegenbeispiele widerlegt werden kann. Kann es aber dann in der Naturwissenschaft überhaupt eine absolute Wahrheit geben?

Wir sprechen auch noch in einem normativen Sinne von Wahrheit, wenn es um moralische Fragestellungen geht. Eine Person kann wahrhaftig sein. Hier ist Wahrheit nicht der Falschheit, sondern der Lüge entgegen gesetzt. Falschheit wird also im moralischen Sinne willentlich hervorgebracht – nicht als ein Versehen oder ein Fehler, sondern als bewusste Täuschung. Man könne diesbezüglich von einer Authentizitätstheorie der Wahrheit sprechen, die lebendige Personen und deren Freiheitsvollzüge qualifiziert.

Deswegen stellt sich die Frage, ob Wahrheit überhaupt ohne Interesse möglich ist. Ist am Ende nicht gerade das wahr, was erlaubt und geduldet, d.h. nicht verboten ist? Ist „Wahrheit“ nur ein Machtinstrument zur Unterdrückung unliebsamer, abweichender Meinungen?

Was kann eigentlich wahr oder falsch sein? Dinge, Ereignisse, Sätze, oder Behauptungen? In der Geschichte der Philosophie neigt man dazu, nur Urteile als wahrheitsfähig anzusehen. Urteile sind Sätze, die Sachverhalte (Peopositionen) ausdrücken, der Art: „behaupten, sagen, meinen, DASS_____.“ All dasjenige, was nach dem „Dass“ folgt, kann wahr oder falsch sein. Fragesätze können nur schwerlich wahr oder falsch sein, weil sie keinen Wahrheitsanspruch erheben.

In der Geschichte der Philosophie lassen sich zwei zentrale Theorien der Wahrheit unterscheiden: die Korrespondenztheorie (oder auch Adäquationstheorie) (KrT) und die Kohärenztheorie (KhT) der Wahrheit. Nach der KrT ist etwas dann wahr, wenn es mit der Wirklichkeit übereinstimmt, oder wenn sich der Verstand den Sachen angleicht. Wie aber ist diese Korrespondenz oder Angleichung genau zu verstehen? Gibt es eine Strukturanalogie zwischen Welt und Urteil? Und ist am Ende eine Korrespondenztheorie gar zirkulär? Gemäß der Kohärenztheorie ist eine Theorie dann wahr, wenn ihre Aussagen untereinander stimmig sind, sich widerspruchsfrei zusammenfügen. Aber ist es nicht denkbar, dass es verschiedene kohärente Theorien gibt, die sich konträr oder gar kontradiktorisch entgegen stehen? Bloß kohärenten Theorien scheint dasjenige zu fehlen, was Korrespondenztheorien verlangen: Die Übereinstimmung mit der Wirklichkeit, ein Bezug zu den Dingen selbst. Wie verhält es sich aber mit mathematischen Wahrheiten? Sind sie deswegen wahr, weil sie Dingen in der Welt entsprechen? Oder nur aufgrund ihrer logischen Kohärenz?

Neben KrT und KhT gibt es auch noch die Evidenztheorie der Wahrheit. Ein Satz ist demnach wahr, wenn er evident ist. Aber können wir uns nicht auch in unserer Evidenz täuschen? Und ist Evidenz nicht eigentlich nur ein besonderer psychologischer Zustand, der manipulierbar ist?

Auch kann man eine pragmatische Theorie der Wahrheit vertreten. Wahr ist demnach alles, was nützlich ist. Diese Theorie verzichtet auf einen absoluten Begriff der Wahrheit und relativiert ihn vielmehr mit den Interessen endlicher Wesen.

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