Rousseaus Kritik der Aufklärung

In seiner „Abhandlung über die Wissenschaften und die Künste aus dem Jahr 1750 hatte der Genfer Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) die Preisfrage der Académie von Dijon verneint: „Hat die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste dazu beigetragen, die Sitten zu läutern?“ Rousseau stellt seiner Untersuchung die lateinische Wendung „Decipimur specie recti“ voran, die so viel bedeutet wie „Wir täuschen uns durch den Schein des Rechten“. Rousseau möchte also in seiner Abhandlung darauf hinweisen, dass Aufklärung immer auch bedeuten muss, dass wir keiner Selbsttäuschung unterliegen. Oft unterliegen wir nämlich auch einer Selbsttäuschung dadurch, dass wir glauben, besonders aufgeklärt zu sein. Auch die Aufklärung, verstanden im Sinne des Fortschreitens der Wissenschaften, birgt Gefahren, auf die Rousseau hinweisen möchte. Rousseau stellt sich gleich zu Beginn in die Tradition von Sokrates („Ich weiß, dass ich nichts weiß“), indem er sich als „einen ehrenhaften Mann“ charakterisiert, „der nichts weiß, sich dieserhalb aber selbst nicht weniger schätzt.“ (13) Rousseau betont, dass eine Aufklärung immer eine wissenschaftliche Natur- und eine moralische Selbstaufklärung sein muss, wobei die Selbstaufklärung nach Rousseau besonders herausfordernd ist, weil wir die Tendenz haben, uns selbst zu täuschen. Seine Gedanken zur Aufklärung stehen in einem historischen Kontext, denn Rousseau verweist zunächst einmal auf die Renaissance, die durch die Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen im Jahr 1453 und die Emigration vieler Gelehrter nach Rom in Gang gesetzt wurde. Dadurch wurde ein gewaltiger kultureller Schatz antiker Schriften auch in Europa wieder bekannt. Trotzdem kritisiert Rousseau an seiner Zeit, dass sie „eine schändliche und trügerische Gleichförmigkeit“ hervorgebracht habe, so dass sich die Menschen nur noch an sozialen Regeln, aber nicht mehr an „der eigenen Eingebung“ orientierten (23). Die moderne Gesellschaft habe dazu geführt, dass Menschen nicht mehr authentisch existieren, sondern nur noch in Rollen und Funktionen. Dies, so Rousseau, trägt dazu bei, dass „[k]eine ehrlichen Freundschaften mehr“ existieren und auch „keine aufrichtige Wertschätzung, kein eigentliches Vertrauen“ mehr, sondern stattdessen „Verdächtigungen, Argwohn, Befürchtungen, Gefühlskälte, Zurückhaltung, Hass, Verrat“, die „sich unablässig hinter diesem gleichförmigen und trügerischen Deckmantel der Höflichkeit verstecken, hinter dieser viel gepriesenen Urbanität, die wir unserem aufgeklärten Jahrhundert verdanken“ (23). Rousseau parallelisiert die Gezeiten des Meeres, die von dem Mond abhängen, der die Nacht erhellt, mit der Sonne, die den Tag erhellt, und vertritt die provokative These, dass „[j]e höher deren aufklärendes Licht an unserem Horizont aufgestiegen ist“, „umso mehr ist […] Tugend dahingeschwunden“ sei (27). Aufklärung der Vernunft und Moral gehen damit nicht Hand in Hand, wie man denken könnte, sondern verhalten sich gegenteilig. Dieses Verhältnis könne man nach Rousseau in allen Zeiten beobachten. Rousseau nennt den Naturzustand vor der beginnenden Aufklärung einen Zustand der „glücklichen Unwissenheit (heureuse ignorance)“ (41). Unsere glückliche, natürliche Unwissenheit ist im Grunde nach Rousseau ein Schutz: „Die Natur wollte Euch vor der Wissenschaft bewahren, ebenso wie eine Mutter ihrem Kind eine gefährliche Waffe aus den Händen reißt. All die Geheimnisse, die sie vor Euch verbirgt, sind ebenso viele Übel, vor denen sie Euch schützt, und die Mühe, die es Euch kostet, Wissen zu erlangen, ist nicht die geringste ihrer Wohltaten.“ (41 f.) Rousseau sieht das Problem der Aufklärung vor allem in den Bildungsinstitutionen wie Schulen begründet: „Eure Kinder werden ihre eigene Sprache nicht beherrschen, dafür aber andere, die nirgendwo in Gebrauch sind. Sie werden imstande sein, Verse zu verfassen, die sie selbst kaum begreifen. Sie werden sich auf die Kunst verstehen, mithilfe spitzfindiger Argumente Irrtum und Wahrheit unkenntlich zu machen, ohne diese selbst unterscheiden zu können: Sie werden nicht wissen, was Begriffe wie ‚Großherzigkeit‘, ‚Gerechtigkeit‘, ‚Mäßigung‘, ‚Menschlichkeit‘ und ‚Mut‘ bedeuten.“ (63) Die Tugend benötigt nach Rousseau keiner komplizierten Wissenschaft, wie sie die Aufklärung hervorgebracht hat, sondern ist eine „erhabene Wissenschaft einfältiger Seelen“, deren Gesetze „tief in alle Herzen eingeschrieben“ sind, und die wir erkennen können, indem wir „auf die Stimme unseres Gewissens […] hören in der Stille, jenseits der Leidenschaften“ (79).