Verfügen Tiere über geistige Repräsentationen?

Es ist in der Forschung unbestritten, dass Tiere über mentale Eigenschaften verfügen, wie etwa phänomenales Bewusstsein oder Intentionalität. Strittiger ist es jedoch mit Phänomenen wie Begriffe, Sprache und Selbstbewusstsein. Der ‚Geist‘ der Tiere besteht also nicht einfach darin, dass ein mentales Merkmal checklistenartig vorliegt, sondern darin, in welchen Zusammenhängen mentale Akte vorliegen. ‚Geist‘ ist, so verstanden, ein holistisches Phänomen, welches aus dem Zusammenspiel und Verhältnis mentaler Akte besteht, welches mehr oder weniger komplex sein kann.

Verfügen Tiere über geistige Repräsentationen der Außenwelt, oder gar über abstrakte Begriffe? Joëlle Proust bemerkt, dass Verhaltensforscher davon ausgehen, dass höher entwickelte Tiere durchaus über Repräsentationen verfügen und diese auch zur Kontrolle ihres Verhaltens einsetzen können. Eine zentrale Rolle kommt dabei dem geistigen Phänomen der Intentionalität zu: „Intentionalität ist die Fähigkeit, Information über die Außenwelt zu verwenden und in Repräsentationen aufzubewahren, um sie auf neue Situationen anzuwenden und das Verhalten dem Verlauf der Dinge anzupassen.“ (234) Basale Repräsentationen können darin erblickt werden, dass eine Korrelation zwischen neuronalen Zuständen und (Reizen) der Außenwelt besteht. Repräsentationen manifestieren sich in Konditionierungen. Dies demonstriert Proust am Beispiel des Seehasen, einer besonderen Art von Meeresnacktschnecke:

„Der Seehase lernt, einen taktilen Reiz zu ignorieren, wenn er häufig wiederholt wird, und diese Reaktion auch bei gleichartigen, aber weniger intensiven Reizen zu zeigen. Die Seehasen können auch dazu konditioniert werden, ihren Siphon zurückzuziehen, wenn sie elektrische Schläge auf ihren Fuß erhalten. All das verdeutlicht, dass sie fähig sind, ihre neuronale Dynamik mit Veränderungen in der Welt zu korrelieren. Zudem folgt das Lernen, zu dem sie fähig sind, einem zeitlichen Muster, das jenem der Konditionierung von Wirbeltieren vergleichbar ist.“ (225) Ausgehend von diesen Befunden wirft Proust die Frage auf, ob man daraus schließen kann, dass der sensorische Zustand der Neuronen des Seehasen die Welt geistig repräsentiert.

Der amerikanische Philosoph Fred Dretske (1932-2013) hat drei Bedingungen angegeben, die vorliegen müssen, damit ein intentionaler Zustand vorliegt:

„1. Es gibt eine regelmäßige Kovarianz zwischen diesem Zustand und einer gegebenen äußeren Situation. ‚Indikation‘ nennt Dretske die Art von Relation, durch die der innere Zustand eine Information über eine äußere Situation oder Eigenschaft trägt (oder sie indiziert).

2. Der innere Indikator (d. h. der neuronale Zustand, der eine bestimmte Information trägt) hat die Funktion, die äußere Situation anzuzeigen. In diesem Fall repräsentiert der Indikator die Situation, wie man sagt. Wenn Dretske von Funktion spricht, will er damit betonen, dass ein Auswahlmechanismus einen bestimmten neuronalen Zustand – beispielsweise einen Zustand, der an die Sehfunktion geknüpft ist — dazu gebracht hat, immer dann reaktiviert zu werden, wenn ein bestimmter Typ von visueller Form verarbeitet wurde.

3. Schließlich müssen die derart festgelegten inneren Zustände mit dem Status einer Repräsentation wahr oder falsch sein, d. h. ‚semantisch evaluierbar‘. Anders ausgedrückt: Sobald eine geistige / Repräsentation erworben wird, muss sie richtig oder falsch anwendbar sein.“ (225 f.)

Der Seehase erfüllt mit Sicherheit die ersten beiden Bedingungen. Doch erfüllt ein Seehase auch die dritte Bedingung, oder anders gefragt: Können sich Seehasen irren? Proust weist darauf hin, dass die Möglichkeit des Irrtums keinen bloßen Defekt beschreibt, sondern vielmehr einen „bedeutsamen Schritt in der Evolution“ darstellt (226). Der Grund dafür liegt in der Tatsache, dass „die Repräsentation auch dann aktiviert werden [kann], wenn das, was sie repräsentiert, abwesend ist. In die Alltagssprache übersetzt heißt das: Die dritte Bedingung impliziert, dass ein Tier mit einem Geist in der Lage sein muss, gelegentlich (fälschlich) zu glauben, dass dieser oder jener Umstand vorliegt, und es muss in der Lage sein, gemäß seiner Überzeugung zu handeln.“ (226) Das Phänomen des Irrtums impliziert also Überzeugungen, die nicht mit der Welt direkt korrelieren aber dennoch gebildet werden, worin sich eine rudimentäre Form von Freiheit zeigt. Auf ein ähnliches Phänomen hatte bereits Donald Davidson hingewiesen, welches darin besteht, „dass die Möglichkeit von Irrationalität zu einem hohen Grad von Rationalität abhängt. Irrationalität ist nicht einfach ein Mangel an Vernunft, sondern eine Krankheit oder eine Störung der Vernunft.“ Wahre und falsche Überzeugungen setzen ein objektives Verhältnis zur Welt voraus, die einen gewissen Grad an Selbstreflexivität impliziert: „Diese erstaunliche Fähigkeit scheint auf die eine oder andere Weise die Fähigkeit vorauszusetzen, ‚aus sich herauszugehen, um die Welt zu erreichen‘, d. h. die Fähigkeit, auf Eigenschaften der Welt zu reagieren und nicht einfach auf irgendeinen proximalen Zustand der Rezeptoren des Organismus.‘“ (226 f.)