Zusammenfassung 14. Sitzung, 30.1.2020: Freuds Begriff des Triebes

In seiner Schrift „Triebe und Triebschicksale“ (1915) nähert sich Sigmund Freud dem Begriff des Triebes phänomenologisch an. Er schickt seinen Analysen die methodologische und wissenschaftstheoretische Bemerkung voran, dass der „richtige Anfang der wissenschaftlichen Tätigkeit“ „in der Beschreibung von Erscheinungen [besteht], die dann weiterhin gruppiert, angeordnet und in Zusammenhänge eingeordnet werden.“ Grundbegriffe jeder Wissenschaft „müssen zunächst ein gewisses Maß von Unbestimmtheit an sich tragen; von einer klaren Umzeichnung ihres Inhalts kann keine Rede sein.“ Freud hebt dabei hervor, dass nicht etwa nur die Begriffe als Abstraktionen dem empirischen „Erfahrungsmaterial“ unterworfen sind, sondern vielmehr auch die Erfahrung den Begriffen. Darin liegt eine Form von „Konstruktivismus“. Begriff und Erfahrungsmaterial befinden sich nach Freud in einer dynamischen Wechselwirkung und müssen immer mehr aneinander angeglichen werden, bis am Ende die eindeutige Definition steht. Ein solcher zunächst unklarer Begriff ist derjenige des Triebes. Der Begriff des Triebes lässt sich aus ganz verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen weiter erörtern. Die Physiologie als diejenige medizinische Disziplin, die das Zusammenwirken aller physikalischen, chemischen und biochemischen Vorgänge im gesamten Organismus betrachtet, bietet den Begriff des Reizes an. Der Reiz wird dabei als etwas Äußeres verstanden, dem sich der lebendige Organismus durch Reflex entzieht. Freud definiert den Trieb als den „Reiz des Psychischen“. Im Gegensatz zum Reiz stammt der Trieb aus dem Innern des Organismus. Um ihm zu entgehen, genügt ein motorisch verstandenes Reflexschema nicht. Der Reiz lässt sich quasi-mechanisch als momentaner „Stoß“ verstehen, während der Trieb einer „konstanten Kraft“ gleicht. Wir können ihm nicht dadurch entgehen, dass wir ihm (durch Reflex) ausweichen, sondern wir müssen den Triebreiz befriedigen, um ihm zu entgehen. Selbst einfache Lebewesen können unterscheiden zwischen Reizen, die von außen kommen und denen durch Flucht und Muskelbewegung entgangen werden kann, und Reizen, denen nicht durch Flucht entgangen werden kann, weil sie von innen her rühren. Sie besitzen einen „konstant drängenden Charakter“ und lassen sich als „Triebbedürfnisse“ einer Innenwelt beschreiben. Die Reizbewältigung ist in beiden Fällen eine andere, da die Quelle einmal außerhalb, einmal innerhalb des Nervensystems des Organismus liegt. Die inneren Reize bzw. Triebe stellen deswegen für den Organismus eine komplexere Aufgabe dar. Triebreize erfordern, dass sie durch Veränderung der Situation, insbesondere der Außenwelt, befriedigt werden. Freud schließt daraus, dass es gerade die Triebe „die eigentlichen Motoren der Fortschritte sind, welche das so unendlich leistungsfähige Nervensystem auf seine gegenwärtige Entwicklungshöhe gebracht haben“. Freud bemerkt, dass das Phänomen der Lust sehr eng mit demjenigen des Triebes in Verbindung steht, da die Struktur der Befriedigung analog ist. Aus biologischer Perspektive bestimmt Freud den Trieb als „ein Grenzbegriff zwischen Seelischem und Somatischem, als psychischer Repräsentant der aus dem Körperinnern stammenden, in die Seele gelangenden Reize“. Freud bestimmt den Trieb weiter, indem er ihn auf die Begriffe „Drang“, „Ziel“, „Objekt“ und „Quelle“ bezieht. Diese Begriffe lassen sich als Momente, Aspekte oder Dimensionen des Triebbegriffs verstehen:

  • Drang: Er ist der Betrag der Energie, die den Trieb motiviert, sein „motorisches Moment“;
  • Ziel: Die Befriedigung des Triebes als „Aufhebung des Reizzustandes“; dieses Ziel ist recht allgemein und kann auf verschiedene Weise realisiert werden.
  • Objekt: Das Medium oder Mittel, an dem oder durch welches der Trieb sein Ziel erreicht. Ein Objekt kann verschiedenen Trieben zur Befriedigung dienen.
  • Quelle: Der körperliche (chemisch-biologische) Prozess, der den Trieb verursacht und fundiert. Der Trieb repräsentiert psychisch diesen Prozess, der als Reiz vorgestellt wird. Die Quelle des Triebes ist nicht Gegenstand der Psychologie, die sich auf die phänomenalen Ziele des Triebes konzentriert. Man könnte die Quelle des Triebes auch als neuronales Korrelat bezeichnen, auf das er naturalistisch reduziert werden kann.

Freud unterscheidet zwei Urtriebe: Den Selbsterhaltungstrieb und den Sexualtrieb. Doch versteht Freud diese nur als „Hilfskonstruktion“, die vorläufigen Charakter hat. Da die Triebe nicht bewusst vorliegen, kommt nach Freud der Psychoanalyse die Aufgabe zu, die Triebe durch die Erforschung von „Seelenstörungen“ weiter zu ergründen. Freud vertritt die These, dass der Sexualtrieb zunächst eng an den Selbsterhaltungstrieb gebunden ist und sich erst mit zunehmender Entwicklung des Lebewesens davon löst. Das Ziel des Sexualtriebs ist die „Organlust“. Sexualtriebe sind nach Freud sehr flexibel gestaltet und können ihr Objekt der Befriedigung häufig wechseln. Darin besteht auch die Möglichkeit der ‚Vergeistigung‘ der Sexualtriebe durch Sublimierung.