Zusammenfassung 15. Sitzung, 29.7.2020 – Virtuelle Existenz

Häufig wird virtuelle Realität mit bloßer Simulation gleichgesetzt. Doch ist diese Gleichsetzung problematisch, denn sie birgt einen Widerspruch: Wenn virtuelle Realität bloße Simulation ist, dann kann sie nicht real sein. Es stellt sich also die Frage, was unter „virtuell“ bzw. „Virtualität“ zu verstehen ist, damit sie real sein kann. Das Wort „Virtualität“ stammt aus dem Lateinischen „virtus“, was so viel bedeutet wie „Tugend“, „Tüchtigkeit“, „Kraft“. Wir können den Kraft-Aspekt der Virtualität im Sinne von kausaler Wirkmächtigkeit verstehen. Virtualität verstanden als bloße Simulation wäre also zu schwach, da hier der Kraft-Aspekt zu kurz käme. Simulationen haben nur insofern kausale Kraft, als sie als Mittel zu einem bestimmten Zweck verwendet werden. Virtuelle Realität ist aber eine Realität eigenen Rechts. Virtualität ist auch nicht dasselbe wie Fiktion. Die Fiktion unterscheidet sich dadurch von der Simulation, dass sie sich nicht an der Realität orientiert, sondern neue Dimensionen eröffnet, denen freilich dadurch die kausale Kraft verloren geht. Virtuelle Realität kann nun so verstanden werden, dass sie sowohl Aspekte einer Simulation wie auch Aspekte einer Fiktion aufweist, dabei jedoch kausal wirksam fusioniert. Sie orientiert sich an gewöhnlichen bzw. eigentlichen Formen der Realität (das ist der simulative Aspekt), erweitert diese aber um neue, uneigentliche Aspekte (das ist der fiktionale Aspekt), und zwar so, dass dabei kausale Kraft bewahrt bleibt. Virtuelle Realitäten sind uneigentliche Formen von Realität und eröffnen damit neue Möglichkeiten. Diese neuen Möglichkeiten der Realisierung entstehen dadurch, dass virtuelle Realitäten einer anderen Raum-Zeit-Logik gehorchen als ihre physikalisch gebundenen Vorbilder. Sie bedienen sich dazu anderer Medien und Realisierungsweisen, wie z.B. der Digitalisierung, aber auch der menschlichen intersubjektiven Konvention. Folgende Beispiele können dies demonstrieren:

  • Währungen (Bitcoin), die nicht materiell existieren, aber etwa in Goldwerte umgetauscht werden können.
  • Juristische Personen wie Vereine, die eigene handlungsfähige Organe besitzen und Träger von Rechten und Pflichten sind, jedoch nicht physisch existieren.
  • Geldscheine, die an sich (physikalisch) keinen Wert besitzen, deren Währung aber von der Gesellschaft intersubjektiv garantiert wird.
  • Multiplayer-Computerspiele wie „Second Life“ oder „World of Warcraft“, in denen Menschen mit Avataren gegeneinander antreten und kausal interagieren, ohne dass es sich dabei um eine bloße Simulation handelt.
  • Online-Seminare, die keine räumliche physische Präsenz der Studierenden verlangen, und durch digitale Strukturen den Lehr- und Lernprozess flexibilisieren.