Zusammenfassung 2. Sitzung, 29.4.2020 – Einführung

Die Frage, was „Existenz“ überhaupt bedeutet, ist eine typisch philosophische Frage. Denn alle anderen Wissenschaften, z.B. die Biologie, müssen den Begriff der Existenz bereits (ungeklärt) voraussetzen, um überhaupt Wissenschaft betreiben zu können. Sie befassen sich mit bestimmten existierenden Dingen und ihren Eigenschaften (wie z.B. Corona-Viren), aber nicht mit ihrer Existenz schlechthin. Die Philosophie hingegen rückt den Begriff der Existenz ins Zentrum und stellt etwa folgende tiefschürfende Fragen: Was bedeutet es für etwas, zu existieren? Was kann alles existieren, und was nicht? Gibt es Existenzen, die ‚mehr‘ als andere existieren? Inwiefern existieren fiktionale Gegenstände und Personen wie das Raumschiff Enterprise und Pumuckl? Welchen ontologischen Status haben virtuelle Realitäten? Existieren lebendige Wesen auf eine fundamental andere Weise als es andere materielle Gegenstände tun? Und schließlich: Wie verhalten sich „Existenz“, „Sein“, „Ding“, „Realität“, „Wirklichkeit“ und „Virtualität“ zueinander?

In der Geschichte der Philosophie gibt es verschiedene Auffassungen darüber, wie Existenz zu verstehen ist. Platon ist etwa der Auffassung, dass Existenz graduierbar bzw. steigerbar sei. Bestimmte Dinge existieren ‚mehr‘ oder ‚in höherem Maße‘ als es andere tun. So verstanden ist Existenz fast schon eine Art ‚Prädikat‘, welches Dingen zukommt. Schatten existieren nach Platon weniger als ihre Gegenstände, diese wiederum weniger als Zahlen, und diese weniger als Ideen. Immanuel Kant vertritt hingegen die Auffassung, dass die Existenz und das Prädikat eines Dinges streng unterschieden werden müssen. Hundert wirkliche bzw. existierende Taler – so sein berühmtes Beispiel in der Kritik der reinen Vernunft – sind von ihrem Wesen her nicht ‚mehr‘ als es hundert bloß mögliche oder gedachte Taler sind. Sie sind genau hundert Taler, und nicht etwa hundert Taler und ein Kreuzer, der sich der Wirklichkeit verdankt. Wirklichkeit und Möglichkeit sind keine Prädikate von Dingen (sie bestimmen Dinge nicht inhaltlich), sondern nur formal. Sie sind Modalitäten und lassen sich wie verschiedene Perspektiven oder ‚Rahmungen‘ verstehen, die um das Wesen eines Dinges gelegt werden. Existenz lässt sich aber auch virtuell denken, ebenso wie auch Hochschullehre virtuell abgehalten werden kann, ohne eine bloße Simulation der traditionellen Lehre zu sein. Kants hundert Taler könnten auch so existieren, dass sie zwar nicht als Münzen in meiner Tasche liegen, dafür jedoch auf meinem Konto. Dennoch sind sie bezüglich ihres Wesens genauso existent und wertvoll wie hundert physikalisch existierende Taler, die ich in meine Hand nehmen kann. Existenz scheint also immer auch mit Kausalität bzw. kausaler Kraft in einer Verbindung zu sehen, die bei bloß möglicher Existenz so nicht gegeben ist.