Zusammenfassung 5. Sitzung, 27.5.2019 – Bullshit, Eitelkeit, Eigendünkel

Warum sollten wir uns als Philosophen überhaupt mit dem Unmoralischen befassen? Sollten wir es nicht lieber philosophisch boykottieren? Lässt sich das Unmoralische überhaupt philosophisch begreifen, oder entzieht es sich nicht gerade unserer Vernunft und unseren Begriffen? Und wie kommen wir vom Unmoralischen wieder zum Moralischen zurück? Besteht nicht die Gefahr, dass wir der Faszination des Unmoralischen und Bösen erliegen und am Ende dadurch selbst unmoralisch oder böse werden? Wenn das Unmoralische Gegentand der Philosophie sein kann, muss es sich rational weiter verständlich machen lassen. Dies kann z.B. dadurch geschehen, dass wir es als eine bestimmte Form oder Strategie betrachten, unsere Vernunft und unsere Freiheit zu gebrauchen, und Motive und Gründe aufdecken, die ihm zugrunde liegen. So gesehen kann eine philosophische Analyse des Unmoralischen gerade auch für das moralische Gute nützlich sein. Denn erst wenn wir verstehen, warum und wie wir unmoralisch Handeln, können wir Strategien und Tugenden formulieren, die uns helfen, es zu vermeiden.

Harry Frankfurt befasst sich in seinem Essay mit dem provokativen Titel „On Bullshit“ (2005) mit einer der Lüge verwandten Form des Unmoralischen. Wir können die Handlung oder Strategie der Lüge so verstehen, dass wir um die Wahrheit einer Proposition p wissen (oder zumindest starke Gründe für die Annahme haben, dass p der Fall ist), jedoch aus bestimmten Eigeninteressen heraus beabsichtigen, dass eine andere Person glaubt, dass p nicht der Fall ist. Eine Lüge besteht also noch nicht allein darin, die Unwahrheit zu sagen. Denn hier bleibt völlig offen, warum wir nicht die Wahrheit sagen. Die Unwahrheit einer Aussage könnte auch unserer Unwissenheit oder Dummheit geschuldet sein. Wir sehen also, dass wir im Phänomen der Lüge mit der Wahrheit spielen. Wir tarnen sie, geben sie als die Falschheit aus, oder aber die Falschheit für die Wahrheit. Dabei ist entscheidend, dass wir stets anerkennen müssen, dass es sich bei der Lüge um eine Lüge handelt, dass wir also immer auch die Wahrheit als Wahrheit anerkennen müssen, selbst wenn wir wollen, dass jemand anderes sie nicht erfährt. Gewissermaßen beschützen wir die Wahrheit in der Lüge auf eine ganz besondere Weise, so, dass die belogene Person an sie nicht herankommt. Wir sind insofern in der Lüge der Wahrheit verpflichtet, wenn auch nicht auf die rechte Weise, die darin bestehen würden, dass wir auch den anderen an der Wahrheit teilhaben lassen. Frankfurt stellt fest, dass die Lüge eine gewisse „Geschicklichkeit“ des Lügners voraussetzt, da die Lüge immer vom „Zwang der Wahrheit“ umgeben ist (59). Der Bullshitter dagegen ist solchen Zwängen der Wahrheit nicht ausgesetzt, da er sich nicht um die Wahrheit kümmert, nicht einmal indirekt, wie es der Lügner tut. Im Gegensatz zum Lügner besteht die Problematik des Bullshitters darin, d“aß der Wahrheitswert seiner Behauptung keine besondere Rolle für ihn spielt. Wir sollen nicht erkennen, daß er weder die Wahrheit sagen noch die Wahrheit verbergen will.“ (61). Die Unterscheidung von Wahrheit und Falschheit, die für den Lügner zentral ist, wird für ihn unbedeutend. Es ist dem Bullshitter „gleichgültig, ob seine Behauptungen die Realität korrekt beschreiben. Er wählt sie einfach so aus oder legt sie sich so zurecht, daß sie seiner Zielsetzung entsprechen.“ Da der Bullshitter die Wahrheit gar nicht beachtet, ist Bullshit nach Frankfurt „ein größerer Feind der Wahrheit als die Lüge“ (67). Darin ähnelt der Bullshitter den antiken Sophisten. Ihnen ging es nicht darum, eine andere Person von der Wahrheit mit guten Argumenten zu überzeugen, sondern sie nur durch Rhetorik zu überreden und zu manipulieren. Worin liegt der Grund von Bullshit? Nach Frankfurt wird Bullshit dann produziert, „wenn die Umstände Menschen dazu zwingen, über Dinge zu reden, von denen sie nichts verstehen. Die Produktion von Bullshit wird also dann angeregt, wenn ein Mensch in die Lage gerät oder gar verpflichtet ist, über ein Thema zu sprechen, das seinen Wissensstand hinsichtlich der für das Thema relevanten Tatsachen übersteigt.“ (70)

Häufig scheint der Bullshit auch dem Laster der Eitelkeit zu entspringen. Denn wir getrauen uns nicht, zuzugestehen, dass wir uns in einer Sache nicht auskennen und reden dennoch darüber. Immanuel Kant kennt ein dem Hochmut verwandtes Phänomen, das er „Eigendünkel“ nennt. Der Eigendünkel zeigt sich darin, dass wir unsere Individualität, die in erster Linie durch unsere Neigungen definiert ist, zum absoluten Maßstab und Grund unseres Handelns erheben. Damit erheben wir uns als Individuen über die Geltung des vernünftigen Sittengesetzes. Kant spricht von einem „Hang“, der allen Menschen innewohnt, der Forderung des Sittengesetzes zu entgehen. Die Operation, sich eine Ausnahme von dem Sittengesetz zu erlauben, nennt er „Vernünfteln“. Wir führen darin Gründe an, dass wir ausnahmsweise gerechtfertigt sind, etwa zu lügen. Hieran zeigt sich, dass das Unmoralische nach Kant keineswegs irrational ist, sondern unter Aufbietung unserer Vernunft geschehen kann.