Zusammenfassung: Das digitale Böse

Da sich die Digitalisierung in ganz verschiedenen Bereiche unseres Alltags auswirkt und überkommene Traditionen und Prozesse virtualisieren lässt, stellt sich die Frage, ob damit auch neue Formen des Unmoralischen einhergehen. Hier können wir wieder die drei Großphänomene der Digitalisierung – (i) künstliche Intelligenz, (ii) das Internet und (iii) Computerspiele – in den Blick nehmen.

Zu (i): Luciano Floridi hat in seinem 2013 erschienenen Buch The Ethics of Information den Begriff des „artificial evil“ geprägt. Er versteht darunter eine dritte Form des Bösen neben natürlichen Übeln wie Krankheiten und Naturkatastrophen (dem malum morale) und moralischen Übeln wie Folter (dem malum morale). „Artificial and autonomous agents” wie etwa Webbots oder Computerviren versteht Floridi als „morally accountable sources of good and evil” (180). Floridi erweitert damit das Spektrum möglicher Akteure auch auf künstliche Akteure, die im Rahmen der Digitalisierung entstehen. Er unterscheidet zwischen natürlichen autonomen Akteuren wie Menschen und Tieren, natürlichen heteronomen Akteuren wie etwa Erdbeben, künstlichen autonomen Akteuren wie Webbots und Viren und künstlichen heteronomen Akteuren wie Umweltverschmutzung und Verkehrsstau. Floridi interpretiert das Böse im allgemeinen Kontext seines informationstheoretischen Paradigmas der Digitalisierung bzw. der „Infosphäre“. Moralische Akteure, seien sie menschlich oder künstlich, operieren immer in und durch Informationen. Eine böse Handlung definiert Floridi als “one or more negative messages, initiated by A, that brings about a transformation of states that (can) damage P’s well-being severely and unnecessarily; or more briefly, any patient-unfriendly message.” (183)

Zu (ii): Verstehen wir das Internet als einen virtuellen Handlungsraum, so ist insbesondere das Darknet ein möglicher Kandidat des digitalen Bösen. Denn im Darknet kapseln sich Intranetze ab und verkleinern damit den virtuellen Handlungsraum. Das Darknet ist gerade der Tendenz des Internets, sich zu erweitern und mit anderen Inhalten zu vernetzen, entgegengesetzt und erscheint so als ein Schattenraum. Hier stellt sich die Frage, ob alle virtuellen Handlungen, sofern sie im Darknet erfolgen, bereits eo ipso unmoralisch sind, dass also das Darknet insgesamt einen Raum des Unmoralischen eröffnet.

Zu (iii): Inwiefern ist das simulierte Töten simulierter Personen im Computerspiel unmoralisch zu nennen, wenn dabei doch niemand wirklich zu Schaden kommt? Wir können mit Blick auf Computerspiele(n) vom “fiktiven” oder “simulativen Bösen” sprechen. Diese Form des Bösen ist nicht mit dem wirklichen Bösen zu verwechseln, da es bei keiner wirklichen Person wirkliches Leid verursacht. Dennoch scheint auch das simulierte Böse auf eine gewisse Weise noch böse zu sein, denn darin manifestiert bzw. formiert sich zumindest eine rudimentäre böse Intention und Motivation.

Grundsätzlich kommt im Rahmen der Digitalität der Anonymität eine zentrale Rolle zu. Anonymität oder Pseudonymität wird im virtuellen Handlungsraum zu einer virtuellen Lebens- und Existenzform. Während in Medien wie Zeitungen anonyme Leserbriefe oder Beiträge zur sehr selten veröffentlicht werden, so kennt das Internet eine solche Kontrolle nicht, da es eine ganz neue Form von Öffentlichkeit darstellt. Jeder und jede kann prinzipiell seine Meinung im Internet kundtun, sei es auf sozialen Plattformen oder sei es über private Blogs. In Multiplayer-Computerspielen würde der Klarname einer Person (z.B. „Petra Müller“) gar für Verwunderung sorgen. Anonymität ist damit besonders im Raum der Digitalität eine zweitschneidige Angelegenheit. Einerseits schützt sie uns in unserer freien Meinungsäußerung, andererseits verleitet sie uns dazu, fake news, also gezielte Falschinformationen und Verleumdungen, in die digitale Welt zu streuen, wo sie sich wahl- und ziellos reibungslos verbreiten können, etwa durch das Phänomen des Hashtags und der Teilung. Einmal in die virtuelle Welt entlassene Informationen können beliebig kopiert und geteilt werden, so dass sie sich wie ein Lauffeuer verbreiten. Doch im Gegensatz zu einem physischen Lauffeuer, welches irgendwann einmal erlischt, geistern fake news als virtuelles Lauffeuer im Internet immer weiter herum. Durch den Einsatz von KI können ferne täuschend echte Simulationen von Personen erzeugt werden („deep fake“), denen fingierte Sätze in den Mund gelegt werden können.