Zusammenfassung der 2. Sitzung, 11.11.2020 – Kants Kompatibilismus

Die Frage, ob Kant einen freiheitstheoretischen Kompatibilismus vertritt, ist in der Forschung umstritten. Sie hängt entscheidend davon ab, was man unter Kompatibilismus versteht. In der gegenwärtigen analytischen Freiheitsdebatte wird unter einem Kompatibilismus die These vertreten, dass Determinismus und Freiheit vereinbar sind, indem etwa nur eine Konzeption von Handlungsfreiheit vertreten wird,[1] oder aber das Prinzip der alternativen Möglichkeiten infrage gestellt wird, wie dies Harry Frankfurt getan hat.[2] Einen noch radikaleren Kompatibilismus vertritt Kant, da für ihn dieser nicht nur für Willensfreiheit gilt, sondern auch das Prinzip der alternativen Möglichkeiten aufrecht erhalten wird. In seiner Auflösung der Dritten Antinomie der Kritik der reinen Vernunft versucht Kant einen Mittelweg zwischen der These, dass „[d]ie Causalität nach Gesetzen der Natur ist nicht die einzige [ist], aus welcher die Erscheinungen der Welt insgesammt abgeleitet werden können. Es ist noch eine Causalität durch Freiheit zu Erklärung derselben anzunehmen nothwendig“ und der Antithese, wonach „keine Freiheit [ist], sondern alles in der Welt […] lediglich nach Gesetzen der Natur [geschieht]“ (KrV, B 473) zu beschreiten. Es geht ihm darum, „Natur und Freiheit mit einander zu vereinigen.“ (KrV, B 565) Kant unterscheidet dazu zwischen eine Kausalität der Natur und einer Kausalität aus Freiheit. Letztere versteht er auch als kosmologische Freiheit, weil sie darin besteht, spontaner Urheber von Kausalketten zu sein, im Gegensatz zur Naturkausalität, die bis ins Unendliche in der Zeit zurückläuft. Weiter prägt Kant den Begriff praktischer Freiheit, der auf der transzendentalen und kosmologischen Freiheit basiert. „Praktisch“ ist diese Freiheit insofern als sie unser Handeln und unseren Willen bzw. unsere Willkür als Entscheidungsvermögen betrifft, insofern diese nicht durch Neigungen und Triebe, die Kant auch „Sinnlichkeit“ nennt, bestimmt sind und sich auf das Naturgesetz zurückführen lassen. Kant unterscheidet zwischen einer sinnlichen Willkür (arbitrium sensitivum) und einer tierischen Willkür (arbitrium brutum). Während erstere, wie im Falle des Menschen, nur von Neigungen inkliniert wird, wird die tierische Willkür durch Neigung genötigt. Die menschliche Freiheit muss also nicht den Neigungen folgen, sondern kann sich auch gegen sie entscheiden. Kant wirft die für sein kompatibilistisches Unternehmen zentrale Frage auf, „ob es ein richtig disjunctiver Satz sei, daß eine jede Wirkung in der Welt entweder aus Natur, oder aus Freiheit entspringen müsse, oder ob nicht vielmehr beides in verschiedener Beziehung bei einer und derselben Begebenheit zugleich stattfinden könne.“ (KrV, B 563 f.) Im Gegensatz zu gegenwärtigen Formen des Kompatibilismus ist Kants Kompatibilismus ein zwei-Ebenen Kompatibilismus. Er gilt nur insofern, als wir zwischen Dingen an sich, die zeitlos und raumlos sind, und ihren Erscheinungen in Raum und Zeit unterscheiden: „Die Wirkung kann also in Ansehung ihrer intelligibelen Ursache als frei und doch zugleich in Ansehung der Erscheinungen als Erfolg aus denselben nach der Nothwendigkeit der Natur angesehen werden.“ (KrV, B 565) Die Freiheitskausalität ist raum- und zeitlos und betrifft uns, insofern wir uns an dem Sollen des moralischen Gesetzes ausrichten, wie es Kant in der Kritik der praktischen Vernunft weiter entwickelt. Die Naturkausalität betrifft uns, insofern wir unseren Neigungen folgen. Kant betont in seiner Religionsschrift, dass wir immer beide Gesetze in unsere Willkür aufnehmen, jedoch dann, von einer noch höheren Warte aus, beide in ein Ordnungsgefüge bringen.

[1] Vgl. dazu etwa die Theorie von John Locke.

[2] Für eine Übersicht über aktuelle Positionen: http://philocast.net/positionen-der-freiheitsdebatte.