Zusammenfassung: Die Struktur der Enzyklopädie

Die beiden französischen Philosophen Denis Diderot (1713-1784) und Jean Baptiste le Rond d’Alembert (1717-1783) haben im Zeitraum von 1751 bis 1765 die Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers (dt.: Enzyklopädie oder begründetes Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Handwerke) herausgegeben. Dieses 17-bändige Werk umfasst insgesamt mehr als 70.000 Artikel, die von insgesamt 144 Autoren, den sogenannten Enzyklopädisten, verfasst wurden. Bereits im Untertitel der Enzyklopädie zeigt sich, dass sie nicht nur ein Wörterbuch oder Lexikon sein möchte, sondern dass die darin enthaltenen Begriffe begründet (raisonné) sind. Dies bedeutet, dass die Begriffe gemäß einer bestimmten Logik organisiert und strukturiert sind, und dass diese Struktur nicht allein in der alphabetischen Reihenfolge der Wörter besteht. Das Wort „Enzyklopädie“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie „Bildungskreis“, also ein abgeschlossenes, in sich geschlossenes Bildungswerk. Dies bedeutet, dass sich dieses Werk als ein öffentliches Werk versteht, welches ganz verschiedene öffentliche Praktiken wie Wissenschaften, Künste und Handwerke thematisiert. Worin besteht aber genau die Begründung oder Logik von Diderots und d’Alemberts Enzyklopädie? Im Vorwort der Enzyklopädie wird deren Absicht dargelegt: Es geht darum, die „gegenseitige[n] Verflechtungen sichtbar zu machen und mithilfe dieser Querverbindungen die ihnen zugrunde liegenden Prinzipien genauer zu erfassen“ und „die entfernteren und näheren Beziehungen der Dinge aufzuzeigen, […] ein allgemeines Bild der Anstrengungen des menschlichen Geistes auf allen Gebieten und in allen Jahrhunderten zu entwerfen“. Die Aufgabe der Enzyklopädie ist durchaus kritisch und revolutionär im Geiste der Aufklärung: „Man muß dabei alles prüfen, alles ausnahmslos und schonungslos in Frage stellen. […] Man muß diesen ganzen alten Unfug ausrotten, die Schranken umstoßen, die nicht die Vernunft gesetzt hat, den Wissenschaften und Künsten eine Freiheit wiedergeben, die für sie so unersetzlich ist“.

Interessanterweise enthält die Enzyklopädie auch einen Artikel über die Enzyklopädie. Die Enzyklopädie besitzt also eine selbstbezügliche Struktur. Das Ziel der Enzyklopädie besteht darin, „die auf der Erdoberfläche verstreuten Kenntnisse zu sammeln, das allgemeine System dieser Kenntnisse den Menschen darzulegen, mit denen wir zusammenleben, und es den nach uns kommenden Menschen zu überliefern, damit die Arbeit der vergangenen Jahrhunderte nicht nutzlos für die kommenden Jahrhunderte gewesen ist“. Das Ziel der Enzyklopädie ist ein übergenerationelles: es sollen künftige Generationen nicht nur „gebildeter“, sondern auch „tugendhafter“ werden. Um dieses Ziel zu erreichen, ist die Enzyklopädie kein Werk einer einzelnen Person, sondern ein kollaboratives Produkt vieler Autoren. Die Struktur der Enzyklopädie besteht in der Multiperspektivität einer repräsentativen Öffentlichkeit, die sich an die Öffentlichkeit richtet. Der Vorteil einer Enzyklopädie besteht gegenüber einer von einem Individuum verfassten wissenschaftlichen Abhandlung darin, dass ihre Artikel eine besondere „Koordination“ aufweisen, die „den Verweisen geschuldet [sind], dem wichtigsten Teil der enzyklopädischen Ordnung“. Verweise – in heutigen Begriffen „Hyperlinks“ – sorgen dafür, dass die einzelnen Artikel nicht einfach alphabetisch willkürlich und isoliert abgedruckt sind, sondern dass sie neben der bloßen alphabetischen Ordnung, die nicht ihre Sachlogik betrifft, mit anderen Begriffen in verschiedene Relationen gesetzt werden. Dies erlaubt es, den systematischen Stellenwert und die systematische Position von Wissensinhalten und Begriffen im gesamten Wissenssystem zu verstehen: „Die Verweise von Dingen erhellen den Gegenstand, geben seine nahen Verbindungen mit denen an, die ihn unmittelbar berühren, und seine entfernten Verbindungen mit anderen, die man für von ihm isoliert halten könnte. Sie erinnern an gemeinsame Begriffe und analoge Prinzipien. Sie verstärken die Folgerungen. Sie verknüpfen den Zweig mit dem Stamm und verleihen dem Ganzen jene Einheit, welche der Durchsetzung der Wahrheit und der Überzeugung so förderlich ist.“ Doch erlauben es die Verweise auch, Begriffe in oppositionelle Verhältnisse zu bringen um durch Kontrastierung weiter an Bedeutung zu erhalten. Darin besteht die subversive und revolutionäre epistemische Funktion der Enzyklopädie, denn die kontrastierenden Verweisungen „bringen die Begriffe in Opposition zueinander, sie lassen die Prinzipien kontrastieren; insgeheim greifen sie lächerliche Meinungen an, die man offen zu schelten nicht wagen würde, erschüttern sie, stürzen sie um“. Die Verweise bringen die Begriffe in Bewegung und setzen einen Reflexionsprozess desjenigen Subjekts in Gang, welches die Enzyklopädie benutzt. Kontrastive Verweise haben die Funktion, „zu bestätigen und zurückzuweisen, aufzurühren und zu versöhnen“. Damit besitzt die Enzyklopädie eine performative Funktion, die darin besteht, „die allgemein übliche Form des Denkens zu verändern“.

Neben dem alphabetischen und hypertextuellen Ordnungsprinzip gibt es noch ein organisches Ordnungsprinzip, welches die Begriffe in genetischer Ordnung darstellt. Tatsächlich wurde auf Basis der Artikel der Enzyklopädie im Jahr 1769 eine genealogische Wissensordnung erstellt, die einem Wissensbaum gleicht. Dessen Stamm wird durch das menschliche Vermögen der Vernunft veranschaulicht, die darin besteht, die Wissensinhalte aufeinander zu beziehen und zu vergleichen (woraus die Philosophie entspringt); ein Ast symbolisiert das Vermögen des Gedächtnisses, welches darin besteht, Wahrnehmungen zu behalten (woraus die Geschichtswissenschaft entspringt); ein andere Ast das Vermögen der Einbildungskraft, das darin besteht, diese Eindrücke nachzuahmen oder (poetisch) zu fingieren (woraus u.a. die Künste der Poesie und Musik entspringen).