Zusammenfassung: Digitale Aufklärung

Inwiefern brauchen wir eine „digitale Aufklärung“? Immanuel Kant hatte vor über 200 Jahren Aufklärung als „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ bestimmt (8:35). Unter „Unmündigkeit“ versteht Kant „das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“. Unter „selbstverschuldet“ versteht Kant, die Tatsache, dass die Ursache dieser Unmündigkeit „nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen“. Nach Kant sind „Faulheit und Feigheit“ die Ursachen dieser Unmündigkeit: „Es ist so bequem, unmündig zu sein“. Formen der Unmündigkeit erkennt Kant in der Medialität, also der Vermittlung unserer Vermögen: Ein Buch ersetzt meinen Verstand, ein Seelsorger ersetzt mein Gewissen, und ein Arzt meine Urteilskraft. Als zwischen diesen Medien vermittelndes Medium macht Kant das Geld aus: „Ich habe nicht nöthig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen“. Nach Kant ist diese Medialität unserer Vermögen so tief in unseren Alltag und unsere Lebenswelt eingedrungen, dass uns diese selbstverschuldete Unmündigkeit „beinahe zur Natur“ geworden ist (8:36). Wir erliegen dieser Mündlichkeit jedoch nicht einfach so, sondern sind selbst die Ursache dafür, dass uns die Unmündigkeit zur Lebensform geworden ist. Kant macht vor allem „Satzungen und Formeln“, also Vorschriften und Anleitungen des Menschen als „mechanische[] Werkzeuge eines vernünftigen […] Mißbrauchs seiner Naturgaben“ aus und beschreibt sie als „Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit“ (8:36). Kant bestimmt unsere Freiheit als Ausgang aus dieser selbstverschuldeten Unmündigkeit, und zwar im Sinn eines „öffentlichen Gebrauch[s]“ unserer Vernunft.

Worin besteht nun im Ausgang von Kant die spezifisch digitale Unmündigkeit? Die digitale Unmündigkeit ist gegenüber der von Kant namhaft gemachten Unmündigkeit wesentlich potenziert, denn es handelt sich dabei in noch viel stärkerem Sinne um Medialität – eine Medialität, welche durch Blasenbildung, Simulation und Reibungslosigkeit gegenüber der Medialität der gedruckten Schrift wesentlich verschieden ist. Die digitale Unmündigkeit besteht darin, dass wir alle Informationen im Internet für bare Münze nehmen, uns immersiv in simulierten Welten verlieren und sie mit der Wirklichkeit verwechseln, indem wir die Digitalisierung nur als passives Konsummedium verstehen.

Worin kann dann der Ausgang aus der selbstverschuldeten digitalen Unmündigkeit bestehen? Zentral ist dabei, dass die digitale Unmündigkeit auch digital verursacht wurde. Insofern ist auch die Wendung „digitale Aufklärung“ doppeldeutig: Es ist eine Aufklärung der Digitalisierung, d.h. der digitalen Unmündigkeit, und es ist eine digitale Aufklärung insofern, als diese Aufklärung selbst digital erfolgen kann. Eine digitale Vernunft bzw. digitales Denken bedeutet jedoch nicht, nur in Nullen und Einsen zu denken, und algorithmisch im Sinne „mechanische[r] Werkzeuge“. Vielmehr muss digitales Denken bedeuten, dass wir dabei vernetzt denken, im Sinne eines vernetzten öffentlichen Gebrauchs unserer Vernunft. Diese vernetzte öffentliche Vernunft ist eine Vernunft, die im Sinne eines Raumes virtueller Realität verstanden werden kann. Wir verstehen demnach das Internet nicht nur als ein bloßes Konsummedium, sondern als einen virtuellen Handlungsraum. Wir verstehen unsere Handlungen im Internet nicht im Sinne von bloßen Simulationen, sondern als virtuelle Realitäten, für die wir Verantwortung tragen. Wir verstehen Computerspiele nicht nur als Konsummedium und immersive Simulation einer Scheinwelt, sondern als Form der Wirklichkeitsreflexion. Wir verstehen die Digitalisierung nicht als uns beherrschende Technik und „mechanische Werkzeuge“, sondern als Ermöglichungsgrund von Freiheit im Sinne eines öffentlichen, vernetzten Gebrauchs unserer Vernunft im Sinne virtueller Realität. Wir verstehen das Internet nicht als privilegiertes Konsummedium, sondern als Grundbedürfnis nach Freiheit, auf welches alle Menschen ein Recht haben. Ein öffentlicher Gebrauch unserer digitalen Vernunft versteht Digitalisierung als Vernetzung und Teilung von Informationen, als Ermöglichungsgrund von freier Mitbestimmung und Demokratie und als Erweiterung unserer Freiheit durch Virtualisierung.