Nachdem Fichte das System und Prinzip der Sittlichkeit aus dem Ich deduziert hat, bezieht er dieses auch auf andere Subjekte, indem er die Bildung eines Staatswesens zur moralischen Pflicht macht. Denn nur darin können wir dem Gebot des Sittengesetzes, frei und selbständig zu sein, wirklich gerecht werden – nicht in der Vereinzelung. Fichte konkretisiert und deduziert nun weitere Pflichten, die immer vor dem Horizont der Freiheitsaufforderung des Sittengesetzes stehen. Zum einen die Pflicht der Selbsterhaltung. Wir müssen dieser zufolge uns als „Werkzeug des Sittengesetzes“ (258) verstehen, d.h. auch in der sinnlichen Welt danach streben, seinem Gebot gerecht zu werden. Diese Erfüllung des Sittengesetzes setzt eine zeitliche Dimension in der empirischen Welt voraus. Wir müssen demnach unsere Erhaltung und Fortexistenz als leib-seelische-Wesen in der empirischen Welt befördern. Konkret bezieht sich Fichte auf unseren Leib. Wir dürfen diesen durch Fasten nicht schwächen, und durch Unmäßigkeit nicht zu sehr an die kontingente empirische Welt binden. Denn dadurch würde es unserem Geist erschwert, sich „emporzuschwingen“, d.h. seine Freiheit weiter zu entwickeln. Unser Geist kann sich nur dann entwickeln bzw. bilden, wenn er ständig in Aktion ist. Sofern er untätig ist, wird unsere Freiheit geschwächt, was dem Gebot des Sittengesetzes widerspricht. Wir sollen uns nach Fichte auch nicht zu sehr bloßen Imaginationen und Phantasien hingeben, oder fremde Gedanken befolgen und „ohne lebendige Anschauung“ uns in abstrakte Gedanken vertiefen (259): „Der ganze Geist muß ganz und nach allen Seiten, keineswegs aber einseitig ausgebildet werden“. Fichte bestimmt das Leben der empirischen Person im Ausgang von seiner Werkzeug-Metapher als „die ausschließende Bedingung der Vollbringung des Gesetzes durch mich“ (260). Aus der Aufforderung des Sittengesetzes, frei zu sein, folgt nach Fichte, dass wir leben sollen, um diese Pflicht zu erfüllen. Deswegen ist es nach Fichte auch absolut verboten, unserem Leben ein Ende zu setzen. Selbstmord würde nach Fichte bedeuten, sich „der Herrschaft des Sittengesetzes zu entziehen“ (261), und dies würde der Forderung des Sittengesetzes gerade widersprechen. Innerhalb der Pflicht, sich einem Staatswesen anzuschließen, deduziert Fichte auch noch die Pflicht, sich einen sozialen Stand zu wählen, in welchem er Mitglied des Staates ist. Diese interne Differenzierung ist daher wichtig, dass wir so unsere individuellen Stärken besser im Sinne der Forderung des Sittengesetzes entfalten können.
Besonders zentral ist Fichtes Argumentation gegen die Verteidigung der Notlüge. Denn man könnte argumentieren, dass es in bestimmten Situationen ausnahmsweise erlaubt sei, zu lügen, etwa um dadurch größeres Leid zu verhindern. Tatsächlich lügt jeder Mensch mehrmals am Tag, jedoch nicht, um daraus direkten Vorteil zu schlagen, sondern auch, um andere Personen zu schützen oder aus Höflichkeit. Fichte jedoch argumentiert, dass die Verteidigung der Notlüge schlechthin unmoralisch ist und sich sogar widerspricht. Denn wer nach Fichte bekundet, sich die Notlüge zur Maxime gemacht zu haben, dem kann nicht geglaubt werden, da er ja sich gerade von dem Prinzip der Wahrheit bewusst verabschiedet hat. Selbst seine Aussage, dass er sich die Notlüge zur Maxime gemacht habe, könnte so wieder nur eine Notlüge sein. Ähnlich wie Kant argumentiert also Fichte, dass sich diese Maxime konsequent zu Ende gedacht selbst aufheben würde. Nach Fichte ist die Verteidigung der Notlüge noch moralisch problematischer als das konkrete Lügen selbst. Denn wer lügt, der erkennt an, dass er bewusst nicht die Wahrheit sagt. Wer hingegen für die Erlaubnis einer Notlüge argumentiert, der argumentiert, dass die Wahrheit und Falschheit eines Urteils sich nach individuellen Maximen richten soll, dass er sich also nicht prinzipiell der Wahrhaftigkeit verpflichtet. Die Notlüge erhebt individuelle Entscheidungen über die Wahrhaftigkeit. Da aber der Verteidiger der Notlüge in jeder seiner Aussage Anspruch auf Wahrhaftigkeit erheben muss, wird er selbst unglaubwürdig. Damit wird das Sprichwort „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht“ noch weiter radikalisiert, denn es geht nicht um eine einzige Lüge, sondern um das willkürliche Recht auf Lügen, also das Überordnen individueller Überzeugungen über die Wahrheit. Deswegen ist nach Fichte die Verteidigung der Notlüge „das Verkehrteste, was unter Menschen möglich ist“ und lässt auf eine „in Grund und Boden verdorbene Denkart“ (285) schließen. Für Fichte ist nicht so sehr die Lüge als solche problematisch, als die Überlegung, ob die Lüge ausnahmsweise gestattet sei. Nach Fichte ist die Lüge der Natur fremd, da diese immer „geradeswegs auf den Genuß los[gehe]“ (285). Hier ist jedoch kritisch einzuwenden, dass die Natur sehr wohl zumindest die Täuschung und den Schein kennt, und dass diese Formen der „Lüge“ ganz gezielt für das Überleben einzelner Arten eingesetzt werden. So tarnen sich etwa manchen Insekten ganz bewusst als Blätter, im ihre Beute dadurch leichter zu fangen. Manche Arten imitieren andere Arten, sei es durch Laute oder Aussehen, und diese Lüge ist für ihre Existenz und ihr Überleben notwendig. Ebenso ist nach Fichte die Lüge kein Bestandteil der „sittliche[n] Denkart“ (285), den eine Verteidigung der Notlüge würde den „Gedanken eines positiven Bösen, eines bedachten Nachforschens nach einem krummen Wege [bedeuten], um den sich uns darbietenden geraden nicht zu gehen“ (285). Die Verteidigung der Notlüge ist deswegen moralisch so problematisch, da sie nicht eine konkrete Maxime – wie etwa das nicht zurückzugebende Depositum – betrifft, sondern generell unsere Wahrhaftigkeit korrumpiert. Wir können sie daher als eine Maxime zweiter Stufe bezeichnen, welche alle konkreten Maximen erster Stufe gefährdet und korrumpiert, da diese auf Wahrhaftigkeit angewiesen sind. Damit ähnelt die Notlüge dem Phänomen des „Bullshits“, auf welches Harry Frankfurt aufmerksam gemacht hat. Bullshit besteht im Gegensatz zur Lüge, die immer noch die Wahrheit als solche anerkennen muss, um eine andere Person zu hintergehen, darin, die Unterscheidung zwischen Lüge und Wahrheit selbst für irrelevant zu erklären.
Fichte bezieht sich in diesem Kontext auch auf Immanuel Kants Schrift „Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen“ von 1797. Darin hatte Kant die Lüge schlechthin verboten. Fichte knüpft an dieses absolute Lügenverbot an, interpretiert es aber noch weiter. Nehmen wir an, ein unschuldiger Mensch werde von einem Verbrecher verfolgt, und das Opfer suche bei uns Unterschlupf. Sofern der Verbrecher uns fragt, ob das Opfer bei uns Unterschlupf gesucht habe, müssten wir ihm nach Kant wahrheitsgetreu antworten, selbst dann, wenn dadurch das Opfer getötet werden sollte. Nach Fichte verhält es sich dabei komplexer. Denn wir müssen dem Verfolger nicht entweder die Wahrheit oder die Lüge sagen, sondern könnten auch einen dritten Weg einschlagen, insofern wir uns weigern, ihm eine Auskunft zu geben, also den Diskurs und Kontext grundsätzlich infrage stellen und verneinen. Eine Notlüge könnte in dieser Situation, so Fichte, auch ein weiteres unmoralisches Motiv, nämlich Feigheit, zum Grunde haben, um nicht in Konfrontation mit dem Verbrecher geraten zu müssen. Fichte geht so weit, den Tod als Rettung vor der Gefahr der Lüge zu verstehen.